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Kultur - 19.06.2019

Zwischen Blut und Pisse liegt die Hoffnung auf Menschlichkeit

Die mexikanische Schriftstellerin Fernanda Melchor erzählt von Prostituierten und Säufern, den Außenseitern ihrer Heimat. Dafür bekommt sie den Literaturpreis des HKW.

Die Geschichte hinter den Nachrichten. Die ehemalige Journalistin Fernanda Melchor lässt sich von Zeitungsmeldungen inspirieren.

Das Rätsel beginnt, wo es ein Ende findet: Die Hexe ist tot. Sie liegt im Graben neben den Zuckerrohrfeldern. Wer hat sie getötet? Und warum? Doch vor allem: Wer war „die Hexe“? Aus der Faszination für diese Figur, entlehnt aus dem populären Aberglauben der mexikanischen Bevölkerung, mit Verweis auf feministische Aneignungen des Typus Hexe, schöpft Fernanda Melchor die Geschichte ihres Romans „Saison der Wirbelstürme“ (Fernanda Melchor: Saison der Wirbelstürme. Roman. Aus dem mexikanischen Spanisch von Angelica Ammar. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2019. 240 S., 22 €.), für den sie am Dienstagabend zusammen mit ihrer Übersetzerin Angelica Ammar mit dem Internationalen Literaturpreis des HKW ausgezeichnet wurde.

Die Hexe lebt am Rand eines fiktiven Dorfes namens La Matosa im mexikanischen Bundesstaat Veracruz, unter zugezogenen Säufern und Prostituierten und abgehängten und gewalttätigen Dagebliebenen, in einer trostlosen Landschaft aus Zuckerrohr und Industrierelikten. Fernanda Melchor, 1982 in Boca del Río, unweit der gleichnamigen Hauptstadt dieses Bundesstaats geboren, nimmt den Leser mit auf einen Gewaltmarsch durch die Gegenwart Mexikos.

Fein dosierter Zynismus und komplexe Figuren

Rund um den Mord lässt sie Figuren aufmarschieren, die vielstimmig miteinander verknüpft sind. Ob es um den jungen Luismi geht, der mit seinem Spitznamen an den berühmten Sänger Luis Miguel erinnert, oder Norma, die vor ihrem Stiefvater floh; um den alten frustrierten Munra oder den geschundenen Brando – zwischen allem Elend scheinen immer wieder ungläubige Zuneigung und unverhoffte Zärtlichkeit auf. Sie beweisen eindringlich: Auch zwischen Blut und Pisse, Vergewaltigung und Prostitution, Verwahrlosung und frühem Tod, gibt es die Hoffnung auf Menschlichkeit. Die Komplexität jeder einzelnen Figur und Fernanda Melchors fein dosierter Zynismus sorgen gerade in ihrer unrealistischen Übertreibung für eine erschreckende Plastizität.

Auf jedem zeitgenössischen lateinamerikanischen Roman lastet ein großes Erbe. Man mag Melchor eine Art Magischen Realismus attestieren, insbesondere in Bezug auf die Hexe, die nicht ganz von dieser Welt zu sein scheint. Man kann in La Matosa das imaginäre Macondo von Gabriel García Márquez wiedererkennen – der Verlag spielt im Klappentext auf dessen „Chronik eines unvermeidlichen Todes“ an. Man kann die Erzähler und Erzählerinnen der jungen Generation – Fernanda Melchor ist zweifelsohne eine ihrer interessantesten Stimmen – aber auch für sich sprechen lassen.

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Ihre Stärke ist es, einer Welt gerecht zu werden, die die modernen Klassiker gar nicht zu beschreiben hatten: die festgefahrene, perspektiv- und geschichtslose Gewalt. Wie die Hexe keine Herkunft zu haben scheint, so scheint auch die Gewalt aus dem Nichts zu kommen. Sie zeigt sich in der kargen Landschaft und einer schroffen Kommunikation, nicht als etwas sozial Bedingtes.

Fernanda Melchor schafft eine Perspektive „von unten“, die dennoch von einem formvollendet literarischen Ausdruck lebt. Ihm wird auch Angelica Ammars deutsche Übertragung gerecht. Das mexikanische Spanisch ist geprägt durch eine Vielzahl an vulgären und informellen Ausdrücken, die häufig schon in anderen spanischsprachigen Regionen auf Unverständnis stoßen. Dennoch eine plastische, nicht lächerlich wirkende Sprache entwickelt zu haben, ist Ammars große Leistung.

Die heute in Puebla lebende Fernanda Melchor schöpft aus einer reichen Erfahrung. Sie arbeitete einige Zeit als Journalistin. Als solche recherchierte sie häufig eben jene Geschichten hinter den „faits divers“, den vermischten Meldungen. Auch die Geschichte der toten Hexe war anfangs nicht mehr als eine kleine Zeitungsmeldung. Doch im Umland von Veracruz zu recherchieren, wäre unmöglich gewesen. Zu groß war die von Narcos und Paramilitärs ausgehende Gefahr. Also erfand Fernanda Melchor die Hintergründe. Ein Glücksfall. Denn so entstand ein Roman, der Worte findet, wo ein Bericht hätte scheitern müssen. Während sich der Wirbelsturm entfaltet, herrscht rund um die Tat selbst dröhnendes Schweigen.

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