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Kultur - 19.06.2019

Die Liebe. Die Hoffnung. Alles weg.

Aus dem Nachlass: Der Berliner Schriftsteller Klaus Schlesinger erzählt im Roman „Der Verdacht“ vom Liebestod des großen Dichters Heinrich von Kleist und seiner Gefährtin.

Auf den Spuren Kleists. Der Dichter im historischen Porträt.

Ein Knall. Die Dienerin erstarrt. Was war das? Da peitscht ein zweiter Knall vom Waldrand her über die Lichtung. Ein Schuss, nein: zwei! Sie eilt zurück an den Ort, wohin sie dem jungen Liebespaar soeben noch Kaffee und Schreibwerkzeug gebracht hatte. Und findet – beide tot. Die Frau, ein Schuss ins Herz, der Mann, in die Mundhöhle. Ihr Name Henriette Vogel, seiner Heinrich von Kleist. So, ungefähr, ist der doppelte Selbstmord oder Liebestod des großen deutschen Dichters und seiner Gefährtin, im November 1811 am Kleinen Wannsee bei Potsdam, überliefert.

So erzählt ihn auch der Berliner Schriftsteller Klaus Schlesinger (Klaus Schlesinger: Der Verdacht. Eine Kleist-Novelle. Mit Nachworten von Astrid Köhler und Anette Handke. Radierungen von Moritz Götze. Quintus Verlag, Berlin 2019. 96 S., 18 €.). Über drei Jahrzehnte lang experimentierte er mit dem Stoff, entwarf neben Prosa auch Drama-, Film-, Hörspielversionen. Noch wenige Monate vor seinem Leukämie-Tod im Jahr 2001 hatte er erneut an der Novelle geschrieben. Diese letzte Fassung wurde nun vom Frankfurter Kleist-Museum herausgegeben. Der umfangreichste unveröffentlichte Text aus dem Nachlass Klaus Schlesingers, der mit Romanen wie „Michael“ (1975), „Matulla und Busch“ (1984) oder „Die Sache mit Randow“ (1996) deutsch-deutsche Literaturgeschichte schrieb, hat somit das Licht der Welt erblickt.

Spalt zwischen Sehen und Wissen

„Der Verdacht“ heißt Schlesingers Novelle, in der Kleist und seine Geliebte bereits nach dem ersten Erzähldrittel leblos im Laub liegen, weil die Hauptfigur Felgentreu fundamentale Zweifel umtreiben. Anders als der historische Johann Christian Felgentreu, preußischer Hoffiskal und Landrichter, der den ungewöhnlichen Todesfall juristisch untersuchte und rasch abschloss, kommt Schlesingers Ermittler die augenscheinliche Beweislage nur allzu schlüssig vor. Wurde Wirklichkeit hier nur inszeniert? Handelt es sich, statt um Suizid, vielleicht um Mord? Felgentreu sammelt Indizien. Es soll eine dritte Pistole gegeben haben.

Gescherzt und gelacht hätten die beiden nun Toten – macht man das, bevor man sich eine Kugel in den Kopf jagt? Dann schnüffelt ein ominöser Offizier aus Potsdam am Tatort herum. Und warum taucht in Felgentreus Kanzlei ein Geheimrat auf, der ihn drängt, den Fall rasch zu beenden? Es ist klar: Der Staat mischt sich ein.

Für Schlesinger, der bis 1980 in der DDR lebte, mehrfach von der Staatssicherheit überwacht und aus dem Schriftstellerverband gedrängt wurde, mag es ein erfahrungsbedingter Reflex gewesen sein, einer allzu glatten Deutung der Wirklichkeit mit Verdacht zu begegnen. Und Kleist: Den Spalt zwischen Sehen und Wissen etwa vermochte der Autor des „Zerbrochenen Kruges“ und der „Penthesilea“ mit schier grenzenloser Einbildungskraft derart aufzureißen, dass jede Gewissheit hermeneutischen Verstehens darin verschwinden konnte.

Kriegserfahrungen verbindet Kleist und Schlesinger

So weit gehen Schlesinger und sein Protagonist nicht. Auch sprachlich bewegt sich Schlesingers Novelle auf anderen Spuren als Kleists getriebene, rhythmische, atemlose Prosa. „Der Verdacht“ und Felgentreu vertrauen, die journalistische Ausbildung und Gestimmtheit ihres Erfinders im Rücken, auf Methoden und Ton der Reportage. Sie stützen sich mittels Recherchen, Befragungen, kluger Kombinatorik auf eine Wirklichkeit aus „Tatsachen“.

Felgentreus Faktentreue bekommt dabei durchaus ihr Recht. Am Ende überführt er den Geheimrat als französischen Spitzel und setzt den Offizier-Informanten zum klärenden Verhör fest. Doch selbst diese Ermittlungserfolge können nicht Felgentreus existentielle Krise aufhalten, von der die zweite Hälfte der Novelle handelt: „die Liebe, die Hoffnung. Alles weg. Die pure Leere.“ Und wie kam Kleist nun tatsächlich zu Tode? „Die Umstände“, sagt Felgentreu am Ende wie zu sich selbst, „du brauchst gar keine Waffe gegen einen zu richten.“

Ein „Umstand“, der Felgentreu und Kleist und Schlesinger verbindet, ist der Krieg. Die Erfahrung körperlicher und seelischer Versehrung. „Ich horche auf das Blei in meinem Körper“, bekennt der Veteran Felgentreu, schmerzgepeinigt spürt er, „wie es sich bewegt“. Das ist wörtlich und metaphorisch zu verstehen. In der Vorbemerkung zur Novelle situiert Schlesinger die Handlung „in einer Zeit zwischen zwei Kriegen“.

Blick ins Herz der Geschichte

Eine Formulierung, die sich auch bei Thomas Brasch oder Heiner Müller findet, die mit „Mädchenmörder Brunke“ (1999) und das „Leben Gundlings“ (1976) ihrerseits Kleist-Adaptionen vorgelegt haben. Erkundungen von Lust- und Angstlandschaften zwischen nachwirkendem Zweiten und antizipiertem Dritten Weltkrieg. Betrachtet aus der Perspektive einer Nebenfigur wie Felgentreu, dessen Auge für das Abseitige womöglich den entscheidenden Blick ins Herz der Geschichte eröffnet. Hierin könnte ein Motiv für Schlesingers unstillbare Neugier für diese eigentümliche Figur bestanden haben.

Das kluge Nachwort der Schlesinger-Biografin Astrid Köhler gibt einen Hinweis, wie die Novelle für Schlesingers Umgang mit der Zeitenwende nach 1989 lesbar sein könnte. Im Tagebuch habe Schlesinger den Kleist-Satz notiert: „Wo ist der Platz, den man jetzt in der Welt einzunehmen sich bestreben könnte, im Augenblicke, wo alles seinen Platz in verwirrter Bewegung wechselt?“ Eine Frage, die bis in unsere Gegenwart reicht.

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