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Kultur - 18.06.2019

Die Seele im System

Wie traulich war doch der DDR-Sozialismus: Jonathan Franzen erzählt in seinem neuen Gesellschaftsroman „Unschuld“ vom Totalitarismus des Internets.

The Greatest American Novelist: Jonathan Franzen.

Vor Romanautoren ist kein Geheimnis sicher. Zu jedem noch so gut gesicherten Haus verschaffen sie sich Zutritt, sie durchwühlen jede Schublade, kontrollieren jede SMS und knacken jedes Passwort. Sie sehen, wie oft es jemandem begierig in den Lenden zuckt, und wenn sie gastroenterologisch so interessiert wie Jonathan Franzen sind, notieren sie sogar, mit welcher Macht es ihren Figuren auf der Toilette das Gedärm zerreißt. Sie lauschen jedem Streit und jedem Liebesflüstern, sie lesen Gedanken und können zu allem Überfluss in die Zukunft schauen. Romanciers kennen ihr Personal in- und auswendig. Sie spielen Hebamme und Totengräber, Psychotherapeut und Hellseher, Spion und lieber Gott. Dass sie nicht als Monster verschrien sind, liegt einzig und allein daran, dass sie für gewöhnlich nur fiktiven Figuren nachstellen und anderen eben dadurch eine Idee davon vermitteln können, was es heißt, eine Privatsphäre zu haben.

Wie man es aber dreht und wendet: Eine gewisse Verwandtschaft zwischen Erzählern realistischer Provenienz, Geheimdienstagenten und Whistleblowern lässt sich schwer leugnen. Sie alle operieren in einem Feld von Datenerhebung, Detailverknüpfung, Wissen und Verrat, und indem sie Verborgenes offenlegen, arbeiten sie an der Herstellung von Wahrheiten über Menschen und Sachverhalte. Mit seinem Roman „Unschuld“, in dessen Figurenkosmos Andreas Wolf, ein aus Ostberlin stammender Netzaktivist mit dissidentischen Wurzeln, den Strippenzieher spielt, lädt Jonathan Franzen zu diesem Vergleich geradezu ein. Denn als Versuch, der revolutionären Allgegenwart digitaler Kommunikationsformen auf die Spur zu kommen, beschreibt er einen Totalitarismus, angesichts dessen der DDR-Sozialismus wie ein harmloses Vorspiel wirkt.

Feind der Elite und Freund der Massen

„Die alte Republik“, heißt es, „hatte sich in puncto Überwachung und Paraden gewiss hervorgetan, aber die Essenz ihres Totalitarismus war alltäglicher und subtiler gewesen. Man konnte mit dem System kooperieren oder es ablehnen, aber was überhaupt nicht möglich war, ganz gleich, ob man ein sicheres, angenehmes Leben genoss oder im Gefängnis saß, war gar nicht mit ihm in Beziehung zu treten.“ Und nach einem bitterbösen Porträt des neuen Apparatschiktums im Netz: „Wie die alten Politbüros stellte sich auch das neue als Feind der Elite und Freund der Massen dar, darauf aus, den Konsumenten zu geben, was sie haben wollten, aber Andreas schien es, als würde das Internet eher von Angst regiert: der Angst, unpopulär und uncool zu sein, der Angst, etwas zu verpassen, der Angst niedergemacht oder vergessen zu werden.“

Dabei handelt es sich zweifellos um Figurenrede, aber auch da, wo es Franzen sichtlich höllische Lust bereitet, den Apologeten der Web-Zukunft mit geliehener Zunge eins auszuwischen, ist es nie billige Kulturkritik. Wie jeder gute Schriftsteller benutzt er seine Protagonisten nicht einfach als Sprachrohr, sondern spinnt sie ein in Eigeninteressen und unentrinnbare Perspektiven. So rückt er auch das, was Andreas als Meinung kundtut, in ein Zwielicht, in dem sich der charismatische Anführer des Sunlight Project, mit dem er die WikiLeaks von Julian Assange beerbt, als paranoider Vorsteher einer Sekte erweist, die nichts anderes betreibt als „eine Ruhmfabrik, die sich als Geheimnisfabrik tarnte“. In ihrem Schutz lebt der zwanghafte Onanierer und Frauenverschlinger, Sohn eines sozialistischen Staatsökonomen und einer linientreuen Anglistin, die ihn mit ihrer Liebe fast erstickt, seinen Narzissmus aus.

Franzen inszeniert den Konflikt von Journalismus und Whistleblowing

Und das ist nur ein Strang dieses auf gut 800 Seiten in sieben novellenartigen Unterbüchern entwickelten Romans, der Schicht um Schicht abenteuerliche Intrigen und Verwicklungen freilegt, in denen Betrug und Selbstbetrug oft nahe beieinander liegen. Außerdem inszeniert Franzen den Konflikt von Journalismus und Whistleblowing: Er spielt die Armseligkeit einer auf bloße Denunziation ausgerichteten Enthüllung aus gegen den im Idealfall aufklärerischen Willen eines Erzählens von Geschichten, das man auch als Bekenntnis zur eigenen literarischen Sache verstehen kann. Er rührt an die Grenze von Künstlertum und Kritikerdasein. Er führt seine sexuelle Unzweideutigkeit in den Kampf mit den Ödnissen der Netzpornografie. Und er verankert seine Themen mit blitzendem Sarkasmus in Figuren, die sich damit überzeugend quälen – und gegenseitig behelligen.

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