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Kultur - 02.02.2019

Im Elefantenschritt durch die jugoslawische Geschichte

Dzevad Karahasan durchleuchtet in „Ein Haus für die Müden“ zerrissene Lebensläufe des 20. Jahrhunderts.

Fabulieren ohne Ende. Dževad Karahasan.

Im reichen Bagdad macht sich im Jahr 801 der jüdische Kaufmann Isaak mit einem indischen Elefanten namens Abul Abbas und einigen Dienern auf den Weg zum Mittelmeer. Dort schiffen sie sich nach Italien ein, wo sie den Winter verbringen. Im Frühjahr überqueren sie die Alpen und erreichen im Juli 802 die Kaiserpfalz Karls des Großen zu Aachen. Abul Abbas ist ein Geschenk des mächtigen Kalifen Harun al Rachid. Auch eine kostbare, mechanische Uhr schickt der Kalif, aber lebenslang erinnert von allen, die ihn sahen, wird der Elefant.

Mehrfach hat der bosnische Autor Dzevad Karahasan diese prächtige Anekdote benutzt, um die Verschiedenheit der Kulturen zu illustrieren: nach den Maßstäben des Orients war der Elefant ein gewöhnliches Arbeitstier und die Uhr ein Wunder. Die Franken hingegen bestaunten das riesige Tier und schenkten der Uhr kaum Beachtung. Sie maßen die Zeit mit dem Sonnenschatten, das genügte.

Reisen in fremde Länder

Auch in seine neuen Erzählungen hat Karahasan Motive aus der verbürgten Überlieferung verwoben. Die dritte Geschichte trägt den Titel „Aufzählung von Wundern“, ihr Protagonist Karlo wohnt in Duvno, Karahasans Geburtsort. Es geht um Reisen in fremde Länder, um Rückkehr und Dableiben, um Grenzen und Geschichten. Karlo ist nicht mehr jung und Witwer, sein einziger Sohn ist nach Amerika ausgewandert. Wie also das Leben bewältigen, „das einem in Duvno immer irgendwie entrann“? Jeden Montag geht der einsame Mann ins Kaffeehaus, um den Freunden zuzuhören, die gereist sind und nun Woche für Woche von den geschauten Wundern erzählen. Osman war im Irak, er sah den Vogel Roch und einen Fluss, rot wie Blut, aber das größte aller Wunder und der Gipfel der Schönheit war das goldene Bagdad, wo er eine Uhr kaufte …

So geht es fort, Osman und die anderen wiederholen jene Geschichten, die nach Karlos Überzeugung seit der Schöpfung kursieren und sich ihre Erzähler immer wieder neu suchen. Nur er selbst glaubt sich ohne Geschichte und Wunder. Seiner Frau Andja gefiel das, denn „auf Wundern ruht kein Segen“. Der liebe Gott schätzt den Alltag, und damit die Arbeitenden ihn durchstehen, schenkt er ihnen seinen Blick. Ihn will der Mensch spüren, und verliert er ihn, müssen ihm die Blicke der Liebe oder die der Fremden jenseits der Grenze, vor allem aber die Spiegel einer Geschichte sagen, wer er ist. Wer keine hat wie Karlo, muss sie erfinden, also lügen, und die letzte Grenze überschreiten.

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Bedächtig, sozusagen im Elefantenschritt, durchmessen die fünf Erzählungen das 20. Jahrhundert und spiegeln die wechselvolle jugoslawische Geschichte. Ihr Ausgangspunkt ist Sarajevo zur Zeit der Habsburger, dann wird eine dörfliche Welt, die nach Kontinuität verlangt, zum Schauplatz. Doch neue Ordnungen brechen über die Bewohner herein: Dem Bäcker Juso nimmt der Sozialismus die Bäckerei, er soll sich als ihr Geschäftsführer „beim Volk verdingen“, und da er sich weigert, wird er von den Proletariern, „diesen Halunken“, wie ein „Schaf in den Schatten“ gedrängt. Juso hungert, wenn die Nachbarin vergisst, ihm einen Napf Essen hinzustellen, aber seltsamerweise verdichtet dieser Hunger den Körper und macht ihn schwerer, weil er Juso hilft, der Mensch zu bleiben, der er sein will. Die Welt dagegen wird leichter, und noch leichter schwirren die Feen und Zauberwesen umher, die am Johannistag sichtbar werden und die Gläubigen verstören.

Bittere Realität und Märchen, Absurdes, Schmerzliches und Schönes mischen sich zu zerrissenen Lebensläufen. Warum verbietet die „neue Zeit“ die Johannisfeuer? Liegen die Regeln für Ehre und Anstand ein für allemal fest? Was bedeutet es, einen Pass zu erhalten und mit dem Zug zu reisen? Die Bauern sinnieren und diskutieren und flüchten sich zuletzt in Erinnerungen. Dort treiben Personen von unklarer Existenzweise ihre Scherze, die so zauberhafte Namen tragen wie „Klein-Mate-von-weit-her“. Währenddessen wandert die Jugend aus, und die Dörfer sterben.

Wärmende Geschichten

Vor 15 Jahren erhielt der 1953 geborene Karahasan den Leipziger Preis zur Europäischen Verständigung. Als Moslem, der bei einem Franziskaner Latein und Griechisch lernte, musste er während der serbischen Belagerung aus Sarajevo fliehen. Heute lebt er wieder dort und in Graz. Sein Ton ist nüchtern, auch wenn er von Feen erzählt, während die überraschenden Abschweifungen und Einschübe den Orient ahnen lassen. Getragen von einem geduldigen Atem, der Wiederholungen zulässt, öffnet Karahasans eigenwillige Erzählweise die Tür in ein abgeschiedenes Land.

In der letzten Geschichte, innig wie ein Stück Autobiografie, ist alles Fremde verschwunden. Einer Beerdigung wegen, die keine ist und die ganze Misere der Ausgewanderten offenbart, kehrt Tahir für ein paar Tage aus Australien nach Duvno zurück. Durstig irrt er durch die Straßen zurück in die Zeit, als er Fahrija kannte, und sie, die Hüterin der zurückgelassenen Armseligkeiten derer, die weggingen, wird auch den Leser nah ans Feuer ziehen, um ihn noch lange zu wärmen.

Dzevad Karahasan: Ein Haus für die Müden. Fünf Geschichten. Aus dem Bosnischen von Katharina Wolf-Grießhaber. Suhrkamp Verlag, Berlin 2019. 234 Seiten, 24 €.

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