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Kultur - 04.01.2019

„Europa braucht ein Netzwerk der Regionen“

Buchpreisträger Robert Menasse über die Geschichte der EU, die neuen Nationalismen und die Glaubwürdigkeit von Politik. Ein Interview.

Ach so, du kommst aus Europa. Robert Menasse bei der Buchpreisverleihung am Montag.

Robert Menasse, 1954 in Wien geboren, studierte Germanistik, Philosophie und Politikwissenschaften in Wien. Von 1991 bis 1998 lehrte er in São Paulo, seit seiner Rückkehr aus Brasilien lebt der Schriftsteller hauptsächlich in Wien. Menasses wichtigste Werke: „Trilogie der Entgeisterung“(1991 – 1995), „Die Vertreibung aus der Hölle“ (2001) und „Don Juan de la Mancha“. Für seinen Roman „Die Hauptstadt“ wurde Robert Menasse mit dem Deutschen Buchpreis 2017 geehrt. Der Autor liest am heutigen Freitag mehrfach auf der Buchmesse und tritt am 23.11. in Berlin auf, im Buchhändlerkeller in der Carmerstraße (20.30 Uhr).

Herr Menasse, Sie haben gerade den Deutschen Buchpreis für Ihren Brüssel-Roman „Die Hauptstadt“ gewonnen, ein Buch auch über Europa. Was ist für Sie europäische Geschichtlichkeit?

Das Grundproblem der EU ist, dass ihre Repräsentanten die Ideen der Grundverträge vergessen – oder nie verstanden – haben. Das führt uns in eine paradoxe Situation: Wir müssen so ein wertvolles Projekt verteidigen vor denen, die es vertreten. Und das führt zur Frage der Geschichtlichkeit. Es bringt uns nämlich zurück zur Dialektik der Aufklärung, die uns Freiheit und Gleichheit auf der einen Seite und Nationalismus auf der anderen beschert hat. Denn die Idee von den Nationalstaaten hat zu den größten Verbrechen auf diesem Kontinent geführt.

Und wie hat die EU dies überwunden?
Das Bewundernswerte an der europäischen Einigung nach 1945 war die Klarheit, mit der diese Dialektik analysiert wurde. Im Grunde ging es darum, ein Europa der Freiheit und Gleichheit zu erbauen und dadurch den Nationalismus zu überwinden. Das gängige Narrativ für die jetzige Rückkehr des europäischen Nationalismus ist: Die EU funktioniert nicht und alle müssen wieder für sich selbst sorgen. Aber das basiert auf einer Fehlannahme. Die EU musste in den Gründungsjahren demokratisch legitimiert werden, weshalb die Europäische Kommission auf nationaler Ebene gewählt wurde. Das führt aber in eine Zwickmühle, denn die gewählten Vertreter sollten eigentlich supranationale Interessen vertreten – und nicht ihre nationalen. Dieses Paradox liegt im Herzen der europäischen Krise.

Wie erklärt das den Aufstieg des Nationalismus?
Die nationalen Repräsentanten blockieren Lösungen, sobald sie negative Effekte für ihre eigene Nation vermuten. Genau diese Leute fahren dann in ihre Heimatländer zurück und verkünden, dass europäische Lösungen gescheitert sind. Aber die meisten Probleme der Gegenwart sind auf nationaler Ebene nicht lösbar. Dann verkünden Nationalisten, dass mehr Durchschlagkraft nötig ist und stärkere Führer. Das führt dann in eine Spirale der Radikalisierung.

Müsste ein starker Regionalismus wie etwa im Baskenland, auf Korsika oder in Katalonien nicht gerade zu einer proeuropäischen Haltung führen?
Diese Regionen fühlen sich von den europäischen Institutionen verraten. Barroso hat den schweren Fehler gemacht – in seiner Logik konnte er nicht anders – den Schotten zu sagen: „Wenn ihr Euch vom Vereinigten Königreich lossagt, verlasst Ihr die EU“. Anstatt zu sagen: „Ihr seid proeuropäisch, die Nationalisten sitzen in London, wir unterstützten Euch Schotten“. Das wäre für die EU besser gewesen.

Warum funktioniert das nationalistische Narrativ gerade so besonders gut?
Nationen sind im Kern aggressive Konstrukte. Am Beginn der Nationwerdung standen immer Eroberungs- und Einigungskriege, und am Ende steht die Verteidigung sogenannter nationaler Interessen um Einflusssphären, Bodenschätze und Märkte. Dabei misst sich der eigene Erfolg auch am Nachteil oder Schaden anderer Nationen. Das zeigt sich grundsätzlich bei nationaler Interessenpolitik, sogar innerhalb der theoretisch postnationalen EU: Denken Sie nur an das Verhältnis von Deutschland und Griechenland oder an den Kampf europäischer Staaten, durch Steuerdumping Kapital von anderen Staaten wegzulocken.

Bei der Buchpreisverleihung war der österreichische Autor Robert Menasse sichtlich gerührt.

Sie plädieren für ein Europa der Regionen?
Regionen sind nicht aggressiv, sie sind im Kern kooperativ und pazifistisch. Kein Baske hat zum Beispiel Interesse an einem Territorium, in dem keine Basken leben. Regionen sind historisch gewachsene Kultureinheiten, die nicht durch Kriege entstanden sind. Sie konnten auch durch Nationen niemals gebrochen werden, selbst wenn nationale Grenzen quer durch sie hindurch gezogen wurden. Nehmen Sie nur Tirol! Und Regionen haben eine überschaubare Größe, die konkret identitätsstiftend ist und politische Partizipation der Menschen ermöglicht, die zugleich sehr genau wissen, dass sie nie autark sein können, also auf Kooperation mit anderen Regionen angewiesen sind. Die Lösung ist ein Netzwerk der Regionen, genau das, was die EU vorschlägt.

Aber bleibt die europäische Identität nicht letztlich eine Fiktion?
Wenn es eine Fiktion ist, ist es eine sinnvollere als die Idee der Nation. Aber ich glaube nicht, dass es eine Fiktion ist. Zwei Beispiele. Es macht keinen Sinn, dass Menschen in Tirol und Wien den gleichen Pass haben und damit eine größere Nähe ausgesagt wird als zwischen Menschen in Wien und Bratislava, obwohl letztere nur 40 Minuten voneinander entfernt liegen und sich mehr ähneln. Ein zweites Beispiel. Ich habe acht Jahre in Brasilien gelebt und spreche Portugiesisch. Aber einen Akzent werde ich immer behalten. Oft wurde ich dann gefragt, wo ich herkomme, ich sagte: „Aus Österreich“. Dann hat man mich gefragt, wo das denn sei. „Neben Deutschland“, antwortete ich. Darauf hieß es oft: „Ach so, du kommst aus Europa!“

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