Home Kultur Ein bisschen Frieden
Kultur - 13.05.2019

Ein bisschen Frieden

Pop und Vielfalt, Boykottaufrufe und Raketen: Am Dienstag beginnt in Tel Aviv der Eurovision Song Contest. Ein Streifzug durch die Stadt.

Besser cool bleiben als träumen. Einer der ESC-Holzrahmen in Jaffa, mit Blick auf die westliche Skyline von Tel Aviv.

Tel Avivs südlicher Stadtteil Jaffa erinnert dieser Tage mehr und mehr an Berlin-Mitte oder das East Village in New York. Coffee-Shops, Bars, Restaurants, Galerien, Schmuckläden, Hostels und Unmengen von jungen Party-Touristinnen bevölkern das älteste und immer noch arabisch dominierte Viertel der Stadt, und die vielen Baustellen weisen darauf hin, wie schnell und brutal hier die Gentrifizierung voranschreitet.

Überhaupt Tel Aviv, gerade in den Vierteln westlich der Bahnlinie, in Straßen wie der Ben Yehuda, der Dizengoff oder der Hayakon. Nirgendwo in Israel kann man wohl besser ignorieren, in was für einem gefährdeten und komplizierten Land man sich befindet, nirgendwo scheinen sie weiter weg zu sein: die Sperranlagen zu den Gebieten der Palästinenser, die Checkpoints überall, die Truppen- und Panzerübungsplätze zum Beispiel in der Negev-Wüste, die Kampf-Jets, die ihre Übungsflüge über Galiläa fliegen.

Diese Ambivalenz ist gerade jetzt deutlich zu spüren, da am Dienstag kommender Woche der Eurovision Song Contest mit seinen ersten Vorausscheidungen beginnt. Schon seit Monaten befindet sich Tel Aviv ganz im Zeichen des ESC. Im Stadtbild dominieren die dunkelblauen Eurovision-Plakate und -Logos mit dem golden glitzernden Stern und dem Spruch „Dare to dream“ („Wage zu träumen“) an Wänden, Litfasssäulen, auf Sonnenschirmen und Sonnenstühlen.

Militärflugzeuge donnern über den Himmel

In Jaffa stehen überall ESC-Holzrahmen, durch die man Stadtansichten fotografieren kann; am Dizengoff Center hängen riesige bunte Porträts der israelischen ESC-Gewinnerinnen von 1978, 1979, 1998 und 2018; und in manchen Radiosendern werden die Hörer stündlich auf das Ereignis eingestimmt. Auch die Militärflugzeuge, die dann und wann am Himmel über dem langen Stadtstrand Tel Avivs zu sehen sind, stören die meisten Menschen nicht groß beim Joggen, E-Rollern, Beachballen, Sonnenbaden oder Schwimmen.

Dass der Gaza- Streifen als eine Art Freiluftgefängnis mit seinen zwei Millionen unter menschenunwürdigen Bedingungen lebenden Einwohnern keine hundert Kilometer südlich liegt, spürt man in Tel Aviv nicht – es sei denn, die Hamas feuert vom Gaza-Streifen aus Raketen auf israelische Siedlungen. So wie am vergangenen Wochenende gleich zu Hunderten, was umgehend vom israelischen Militär vergolten wurde.

Obwohl sich Israel und die Hamas inzwischen auf einen Waffenstillstand geeinigt haben, war der Zeitpunkt der letzten Raketenangriffe von der Hamas mit Bedacht gewählt, geschahen sie doch im Hinblick auf den ESC. Um ein Gefühl der Unsicherheit herzustellen, um Gäste und womöglich gar eine der 42 auftretenden Gruppen und Künstler zu Absagen zu zwingen. Und um zu demonstrieren, dass der ESC in Israel noch viel mehr als ein Politikum ist, nämlich diese Show in einem Land stattfindet, das sich im permanenten Kriegszustand befindet. Aber eben auch: in einer Stadt, die als Hochburg von Schwulen, Lesben, Bisexuellen und Transpersonen gilt, in der an jeder Ecke Regenbogenfahnen wehen und alljährlich die Gay-Pride-Parade mit weit über 100.000 Menschen gefeiert wird.

Als vergangenes Jahr in Lissabon die israelische Popsängerin Netta Barzilai mit ihrem Liedchen „Toy“ den Song Contest gewann, war schnell klar, dass nicht nur Israels Premier Benjamin Netanjahu diesen Sieg sich ans eigene Revers heften und für sich nutzbar machen würde. Er plädierte für Jerusalem als Austragungsort, die Gegenstadt zum fast durchweg säkularen Tel Aviv. Die religiösen Israelis sind in deren Westteil in der Mehrzahl sind und die Orthodoxen gewinnen immer mehr an Einfluss, in Politik wie Gesellschaft.

Genau so klar war, dass Israel als ESC-Austragungsort den BDS auf den Plan rufen würde, eine antijüdische, letztendlich antisemitische Organisation, deren Initialen für Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen stehen. Sie ruft seit dem vergangenen Jahr zum Boykott des ESC auf, unterstützt von vielen prominenten Künstlern wie den britischen Popmusikern Peter Gabriel, Brian Eno oder, vor allen anderen: Roger Waters, den Filmemachern Aki Kaurismäki, Ken Loach und Mike Leigh oder der britischen Modemacherin Vivienne Westwood. Allerdings erfolglos: nicht eine der für die Vor- und Endausscheidungen nominierten Musikerinnen folgte diesem Boykott.

Pinkwashing: Der Vorwurf ist absurd

„Artwashing Apartheid“ heißt es auf der Website des BDS. Palästinensische Künstler und Rundfunkjournalistinnen begründen hier den Boykottaufruf so: „Israels System der militärischen Besatzung, des Siedlerkolonialismus und der Apartheid benutzt den Eurovision schamlos als Teil seiner offiziellen „Brand-Israel“-Strategie, die versucht, ’Israels schöneres Gesicht’ zu zeigen, um von seinen Kriegsverbrechen gegen Palästinenser*innen abzulenken.” Dabei sind Begriffe wie „Artwashing“ und „schönstes Gesicht“ nicht zufällig gewählt, stehen sie doch in einem Zusammenhang mit dem „Pinkwashing“-Vorwurf. Der besagt, dass Israel mit seiner Toleranz gegenüber Homo- und Bisexuellen und Transpersonen nur von seiner Besatzungs- und Siedlungspolitik ablenken und sich von seiner eben schönsten, weltoffensten Seite zeigen wolle.

Übertrieben ist, dass das Land – mit seinen vielen sogenannten palästinensischen Israelis, den arabischstämmigen Bewohnern des Landes mit israelischem Pass – ein Apartheidstaat sein soll. Absurd auch die Sache mit dem Pinkwashing: Orthodoxe und ultraorthodoxe Kreise in Israel stehen alles andere als für geschlechtliche und sonstige Vielfalt ein, auch ein Netanjahu nicht. Überdies ist die heterosexuelle Mehrheitsgesellschaft in Israel kein Hort übermäßiger Libertinage, sie hat ebenfalls ihre ganz eigenen Moralvorstellungen.

Es ist ein seltsamer Gegensatz: hier die prekäre Situation im Gaza-Streifen, die Raketenangriffe, die übergriffige, manchmal durchaus brutale Siedlungspolitik. Und dort eine Veranstaltung, die den vielen muslimischen Palästinensern nicht nur missfällt, weil sie jetzt in Israel stattfindet – seltsamerweise gab es bei den beiden Malen zuvor, in den Jahren 1979 und 1999, da der Wettbewerb in Jerusalem stattfand, nicht so viel Widerstand. Sondern sie ist für diese Palästinenser sowieso ein abzulehnender Ausbund an Hedonismus, Grellheit und Freizügigkeit ist. Dabei erstaunt überhaupt, wie sich der ESC zu einem so eminent wichtigen Spektakel entwickelt hat. Wie er von Jahr zu Jahr politischer aufgeladen wurde, durch Austragungsorte wie Moskau oder Baku, wie hier Pop und Politik inzwischen eine fast untrennbare Verbindung eingehen.

Buntheit ist alles, popmusikalische Qualität spielt kaum eine Rolle

Das hat damit zu tun, dass das einheitliche Europa im Moment nicht mehr sehr hoch im Kurs steht, die EU in der Krise steckt: beispielsweise der Brexit hier, ein Nationalist wie der Ungar Victor Orbán dort. Der ESC repräsentiert mit seinem Konzept den gemeinsamen europäischen Gedanken aufs Beste – und wurde dann mit Gewinnerinnen wie eben 1998 mit der israelischen Transgender-Ikone Dana International oder 2014 mit der bärtigen Travestiekünstlerin Conchita Wurst auch zu einem Lieblingswettbewerb der queeren Community. Was wiederum nicht darüber hinwegtäuscht, dass hier das Gesumme mit den Quoten und Punkten, die Buntheit und die Performance fast alles sind, die popmusikalische Qualität aber kaum eine Rolle spielt. Man mag gar nicht daran denken, wie viele unterirdische, peinliche Auftritte und Gesangsdarbietungen es gerade auch in den vergangenen Jahren gegeben hat. 

Der ESC-Pop verlässt nur selten den ESC-Planeten, er taucht in den Pop-Charts, in den angloamerikanischen zumal, nur selten auf. Den besseren Pop gibt es überall, nur nicht beim ESC. Der ist jedoch gleichwohl zu einer Marke, zu einem Teil der Popkultur geworden. Aber wie groß wird der Partyspaß in Tel Aviv sein, wenn zusätzlich 8000 Polizisten für die Sicherheit von Musikerinnen und Gästen sorgen? Wie sagte es eine Sprecherin des öffentlichen israelischen Fernsehsenders Kan: „Von unserem Standpunkt aus gesehen ist alles normal. Wir machen mit unserer Routine weiter. Solange wir keine Sirenen im Zentrum des Landes hören, um Gottes willen, so lange geht es eigentlich nur um Updates und Berichte.“ Will heißen: einfach cool bleiben. Nur träumen tut hier niemand.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Check Also

Kim bettelt um Spenden für Papa und Opa

Die Sanktionen drücken und Kim scheint kaum noch Geld zu haben. Alles fließt in sein Raket…