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Kultur - 05.06.2019

Draußen, im richtigen Leben

Olivier Assayas hat mit „Die Wolken von Sils Maria“ einen wunderbar schillernden Film gedreht, aus dem man gar nicht erwachen will, in die Wirklichkeit am allerwenigsten. Das liegt auch an Juliette Binoche.

Sorge dich nicht, spiele. Bühnen- und Filmstar Maria Enders (Juliette Binoche).

In welcher Welt leben wir eigentlich? Große Frage. Viele kleine Antworten. Olivier Assayas, der spätgeborene Nachläufer der Nouvelle Vague, hat keine Angst vor großen Fragen. Und seine Freude an Antworten, dieser oder jener oder jener. Oder allen zusammen. Da gibt es zum Beispiel die Welt, von der Valentine, das ist die Assistentin des Filmstars Maria Enders, sagt, sie sei the real world. Wenn also in dieser Welt ein Theaterautor namens Wilhelm Melchior mit Anfang siebzig stirbt, dann ist auch diese Nachricht wie überhaupt jede Nachricht nie ohne das anonyme digitale Raunen zu haben. Da schreibt jemand: „Ich dachte, der ist schon lange tot, der hat doch seit 20 Jahren nix Besonderes mehr geschrieben.“ Und jemand: „Schriftsteller werden überschätzt, überall sterben Menschen, nur spricht keiner darüber.“ Und noch jemand: „Kenne den Typen zwar nicht, mein Beileid aber gilt der ganzen Familie.“

Und da gibt es die Welt, in der Maria Enders sich überwiegend aufhält. In einem frühen Stück dieses Wilhelm Melchior – und im Film nach diesem Stück – hat sie mitgespielt, es war der Anfang ihrer Karriere, Maria hielt Kontakt, sie kennt Wilhelms Frau Rosa, und von ihr erfährt sie, dass Wilhelm auf seiner Wanderung in der Nähe seines Hauses im Oberengadin keineswegs an einem Herzinfarkt gestorben ist. Sondern er hat sich das Leben genommen, „aber das bleibt zwischen dir und mir“. Und tatsächlich, auch wenn so ein Suizid gossip-recherchetechnisch viel interessanter ist als ein lumpiger Herzinfarkt: Es bleibt zwischen ihr und ihr.

Maria muss irgendwie in der digitalsten aller möglichen Gegenwarten klarkommen

Beide Welten, die öffentlich flachgetretene und die intime, existieren nebeneinander, und sie haben sich herzlich wenig zu sagen. Auch Maria muss sich in beiden aufhalten, wenn sie in der digitalsten aller möglichen Gegenwarten klarkommen will, und Valentine, nennen wir sie Val, hilft ihr dabei. Val telefoniert mit Marias Scheidungsanwalt und koordiniert ihre Interviewtermine, hantiert stereo mit Smartphone und Blackberry, schirmt Maria ab und schiebt sie in Begegnungen hinein – und beim Kontrollgang durchs neue Hotelzimmer wird, weil Val das so will, sofort der Flatscreen mit dem Willkommensgelaber schwarzgeklickt. Ja, Val baut Maria eine Brücke zur realen Welt. Manchmal stehen sie beide mitten auf der Brücke. Und gucken abwechslungshalber in Marias Welt rüber.

Val ist bisschen über 20, kaum älter als Maria damals war, als sie in Melchiors „Malojaschlange“ die Sigrid spielte. Heute ist Maria deutlich über 40, so alt wie ihr Gegenpart Helena damals. Und weil Olivier Assayas‘ schön vertracktes Drehbuch es so will, soll nun Maria in einer Neuinszenierung der „Malojaschlange“ durch einen Nachwuchsregisseur die Unternehmerin Helena spielen, die sich rettungslos in ihre coole Assistentin Sigrid verliebt, bis die die Ältere in den Selbstmord treibt. Damals hat Maria nicht viel über ihre Sigrid-Rolle nachgedacht, nun aber macht ihr der eher widerwillig vollzogene Wechsel zu schaffen. Über Sigrid weiß sie inzwischen alles. Über sich selbst in ihrem aktuellen Alter – bei genauerem Hinfühlen – am allerwenigsten, aber wer weiß das schon.

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  • Olivier Assayas blickt mit zärtlichem Sarkasmus auf seine Figuren

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