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Kultur - 16.03.2019

Blankziehen

Die Galerie C/O Berlin würdigt den ukrainischen Fotografen Boris Mikhailov mit einer Retrospektive. Mit seinen Bildern hat er Tabus gebrochen.

Selbstporträt. Die Serie „I am not I“ (1992) persifliert die Posen antiker Skulpturen.

Diese Fotografien sind Trockenpräparate. Schockgefrostete Zeit. Das Gegenstück zu den Feuchtpräparaten im Durchgang zwischen den Ausstellungsräumen, die C/O Berlin dem Medizinhistorischen Museum der Charité entliehen hat. Die zu Rudolf Virchows Zeiten eingeweckten Lungenscheiben, Hautstücke und Gehirnhälften beschreiben Krankheitsbilder, pathologische Körperzustände. Würde man die 55 Gläser öffnen, entströmte ihnen ein scharfer Geruch nach Vergänglichkeit, Formaldehyd oder Alkohol.

Ein Gemisch, das auch Boris Mikhailovs Bildern zu entsteigen scheint. So randvoll mit schrundigen, zerbeulten Körpern und Schnapsleichen, wie sie sind. So kreatürlich, wie sie vom Zusammenbruch erzählen. In „Case History“, seiner epochalen, in den Jahren 1997/98 entstandenen Serie von 413 Fotografien, ist die zerstörte postsowjetische Ukraine wie in einer bitter aufstoßenden Probe konserviert. Abgenommen den winterlich verhüllten, häufig auch entblößten Körpern der „bomshez“ (Bomben), wie die Sozialverlierer des Systemumbruchs in Mikhailovs Heimatstadt Charkow genannt werden.

Nachträgliche Hommage zum 80. Geburtstag

Dem seit 1996 auch in Berlin als Zweitwohnsitz heimischen Fotografen widmet die Fotogalerie nun eine umfassende Retrospektive, nachträglich zum 80. Geburtstag. In „Before Sleep/After Drinking“ sind satte 250 Fotos aus „Case History“ zu sehen. Nicht nur ausgewählte Großformate, wie vor sieben Jahren in der Mikhailov-Retro der Berlinischen Galerie, sondern in dichten Reihen gehängte, holzgerahmte Kleinformate, die den konzeptionellen Charakter dieses Katalogs frühkapitalistischer Körpermale betonen.

Wobei die Fotos, die den internationalen Ruhm des Ukrainers begründeten, heute noch genauso polarisieren wie damals. Und das nicht nur, weil Mikhailov den nicht nur dokumentierten, sondern von ihm auch inszenierten Armen und Elenden für das Zurschaustellen ihrer Bäuche, Brüste, Hintern Geld zahlte. „Er wollte das nicht umsonst haben“, sagt Kurator Felix Hoffmann beim Rundgang durch die Schau und vergleicht die nackte Schonungslosigkeit, mit der Mikhailov gesellschaftliche Zustände kritisiert, mit den Arbeiten von Nan Goldin, Araki und Larry Clark.

Betrachter und Fotograf teilen die Voyeursperspektive

So stark Motive wie die winterlich gekleidete Greisin, die eine nackte junge Frau auf dem Schoß hält, oder der halbnackte Mann mit dem wehen Blick in der mit Orden behängten Uniformjacke auch sind, das oft wiederholte Motiv von Frauen und Männern, deren Hosen und Schlüpfer auf halb acht hängen, während sie ihr welkes Bauch-, Brust- und Beinfleisch zeigen, bewegt sich hart an der Grenze zur Diffamierung. Blankziehen gerät zur selbstreferentiellen Masche. Betrachter und Fotograf teilen dieselbe fragwürdige Voyeursperspektive.

Ganz anders verhält es sich bei den vielfach abgebildeten Schwären, die – solchermaßen legitimiert – von den Härten des Straßenlebens erzählen. Besonders plastisch auf dem Foto, auf dem sich der im Profil sichtbare Mikhailov in Untersicht einen wunden Männerpopo anschaut. Oder beim Blick in die leeren Münder jener Menschen, deren Sturz in die Obdachlosigkeit sie nicht nur die Zähne, sondern auch die Würde gekostet hat.

Versunkenes Sowjetreich. Links ein Bild aus Boris Mikhailovs Serie „Case History“ (1997/98), rechts eins aus „Diary“ (1973 –…

Mikhailkov flog in der Sowjetunion aus seinem Job

Dass Boris Mikhailov seine Auseinandersetzung mit dem versehrten Körper und dessen Endlichkeit so ernsthaft wie selbstironisch betreibt und sich selbst unerschrocken mit einschließt, ist auch in den anderen Serien zu sehen. Die in Tischvitrinen ausgestellte Arbeit „Suzi et cetera“ versammelt frühe, zwischen 1960 und 1980 entstandene Fotos des Künstlers und seiner damaligen Partnerin. Ein liegender Frauenakt, in dem Mikhailov direkt auf ihre Vulva hält, gehört zu den Aufnahmen, mit denen die künstlerische Karriere des Autodidakten erst so richtig begann. Auf Betreiben des KGB verlor der subversiv am sauberen Erscheinungsbild der Sowjetunion kratzende Elektroingenieur seine Stelle im Raketenbau. Angeblich wegen Pornografie. Für ihn ist die Episode kein Grund, mit dem Fotografieren aufzuhören. Im Gegenteil. Von Pornografie sind die korrespondierend zu „Suzi et cetera“ gehängten Selbstporträts der spaßigen Reihe „I am not I“ von 1992 ebenso weit entfernt wie die perspektivisch eher kuriose Ansicht der nackten Suzi.

Auf den in Sepia eingetönten, grobkörnigen Schwarzweiß-Motiven posiert der verschmitzte Mikhailov mit Lockenperücke im Stil antiker Olympioniken. Nur dass er statt des Speers einen Dildo schleudert, keinen Diskus, sondern ein Klistier in der Hand hält und den Zipfel seines alternden Gemächts mit spitzem Finger langzieht.

Boris Mikhailov. Selbstporträt aus der Serie „I am not“.

Mit dem Kaiserring der Stadt Goslar ausgezeichnet

Ein ähnlich verspielter, antiheroischer Geist weht auch durch die teils in Giftgrün oder Pink übermalten Arbeiten der Serie „Diary“ (2015). Sie versammelt – als autobiografische Retro in der Retro – Abzüge, die Mikhailov seit den sechziger Jahren in seinen Archivschachteln gesammelt hat, weil sie in keine offizielle Serie passten. Auch Familienfotos sind darunter und Collagen, die das Motiv des nackten Fleisches mit Requisiten von absurdem Humor kombinieren. Melonen etwa oder nackte Barbiepuppen, die Mikhailov sich gerne mal auf die Nase setzt.

Mikhailovs „Case History“-Großformate sind heute jeweils für 120 000 Euro versichert. Und der 2015 als jüngstem Ritterschlag mit dem Kaiserring der Stadt Goslar ausgezeichnete Fotograf hält mit 80 Jahren ganz offensichtlich nichts mehr davon, sich selber zu erklären. Mit rundem Rücken, rundem Bauch, grauen Ziegenbart und Sonnenbrille angetan, steht er freundlich lächelnd vor den Bildern, lässt die Kuratoren reden, betrachtet die Betrachter und sagt keinen Ton. Interviews wollte er sowieso keine geben. Wozu auch? Da hängen ja die Bilder. Zudem wären Russischkenntnisse vonnöten. Deutsch hat Mikhailov in gut zwanzig Berliner Jahren kaum gelernt, auch sein Englisch ist fragmentarisch. Seine ihn am Freitag wie stets begleitende Ehefrau Vita belässt es ebenfalls beim Schweigen und Schauen.

Persönliche Doppelmotive

Ihr einstmals junger und heute gealterter Körper ist genau wie der von Boris Mikhailov auch in der jüngsten Serie „Temptation of Death (2017–19) präsent. Die 150 Diptychen fallen stiller, abstrahierter aus als die drastischen „Case History“-Fotos, und auf andere Art düster. Ein stilistisch geläutertes Alterswerk, wenn man so will. Die Doppelmotive sind aus schon vorhandenen Einzelbildern und Aufnahmen zusammengesetzt, die Mikhailov 2017 in Kiew rund um ein marodes Krematorium aus Sowjetzeiten geschossen hat.

C/O Berlin zeigt sie wegen einer in der Schweiz anstehenden Ausstellung allerdings nur als Großprojektion, was dem morbiden Charme keinen Abbruch tut. Zwei Dinge werden bei diesen virtuos Farben und Formen kombinierenden Doppelmotiven aus Natur, Gebeinen und Industrieschrott deutlich: Boris Mikhailovs Entwicklung vom Anti-Chronisten der Sowjetunion zum Beschwörer menschlicher Kreatur. Und der Weg allen Fleisches.

C/O Berlin im Amerika Haus, bis 1. Juni 2019, täglich 11 – 20 Uhr

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