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Politik - 21.04.2019

Darum nahm ich meinen Sohn (2) mit ins Gefängnis

Zwei Jahre nach ihrer Freilassung hat die Journalistin ein Buch über ihre Zeit im Erdogan-Knast geschrieben

Acht Monate lang war die deutsche Journalistin Meşale Tolu (35) im Istanbuler Frauengefängnis Bakırköy gefangen, fünf Monate davon gemeinsam mit ihrem kleinen Sohn Serkan (damals 2). Zur gleichen Zeit saß ihr Ehemann Suat Çorlu (39) im Hochsicherheitstrakt von Silivri (bei Istanbul) ein. Die Vorwürfe: Terrorpropaganda, Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung – all das, was Türkei-Präsident Recep Tayyip Erdoğan (65) denen vorwirft, die er mundtot machen will.

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Über die dramatische Zeit im Gefängnis hat Tolu jetzt ein Buch („Mein Sohn bleibt bei mir – Als politische Geisel in türkischer Haft – und warum es noch nicht zu Ende ist“, Rowohlt-Verlag) geschrieben. BILD traf sie zum Interview.

BILD: Frau Tolu, Sie waren acht Monate in türkischer Haft. Was war der schmerzhafteste Moment, an den Sie sich für Ihr Buch zurückerinnern mussten?

Meşale Tolu: „Am schlimmsten waren die Momente, in denen ich daran dachte, wie mein Sohn von mir getrennt wurde und ich nicht wusste, wie es ihm geht, was mit ihm passiert. Das alles ist jetzt zwei Jahre her, und ich habe geglaubt, jetzt müsste es doch mal gut sein, aber das ist es nicht.“

In der Nacht zum 30. April 2017 fiel ein Anti-Terror-Kommando in Ihre Istanbuler Wohnung ein, nahm Sie mit und ließ ihren damals 28 Monate alten Sohn allein zurück. Können Sie inzwischen wieder ruhig schlafen?

Tolu: „Als ich in Istanbul aus dem Gefängnis entlassen wurde, aber noch nicht ausreisen durfte, habe ich keine Nacht durchgeschlafen. Seitdem ich wieder zu Hause bin, ist es besser. Ich weiß, in Deutschland bin ich in Sicherheit.“

Ihr Sohn Serkan ist jetzt vier Jahre alt. Schläft er wieder ruhig?

Tolu: „Ja, nachdem wir unseren Alltag wiedergefunden hatten, wurde alles besser. Er hat vieles vergessen. Und das ist gut so. Er geht in den Kindergarten und hat ein ganz normales Leben.“

Wie sieht Ihr neues Leben aus?

Tolu: „Ich bringe Serkan jeden Morgen in den Kindergarten, nachmittags zum Sport, zum Schwimmen. Ich versuche, wieder als Journalistin zu arbeiten. Mein Mann pendelt zwischen Deutschland und der Türkei. Ist er hier, sind wir eine ganz normale Familie.“

Serkan war fünf Monate mit Ihnen gemeinsam in türkischer Haft. Wie sind Sie auf die Idee gekommen, Ihr Kind ins Gefängnis zu holen?

Tolu: „In den ersten Wochen nach meiner Festnahme war ich mir ganz sicher, dass ich Serkan unbedingt zu meiner Familie nach Deutschland schicken muss. Aber nachdem ich nicht mehr in einer Einzelzelle war und die Unterstützung in der Gemeinschaftszelle erfahren habe, änderte ich meine Meinung. Ausschlaggebend war für mich die Nachricht, dass es Serkan nicht so gut geht, wie mir bis dahin alle weisgemacht hatten. Er vermisste mich so sehr, dass er ganz verstört war.“

Wie verändert ein kleines Kind den Alltag im Gefängnis?

Tolu: „In meiner Zelle waren anfangs 16 Frauen, später 26. Keine von ihnen hatte Kinder. Vorher war jeder Tag für sie gleich. Daher haben sie sich über die Abwechslung mit Serkan gefreut. Die Zeit verging für jeden schneller. Erst nachdem er das Gefängnis immer wieder verlassen durfte, um seinen Vater in einem anderen Gefängnis zu besuchen, hat er gemerkt, dass das Leben draußen schöner ist. Dann wollte er gehen.“

Ihr zweijähriger Sohn hat nach fünf Monaten entschieden, dass er nicht mehr bei Ihnen im Gefängnis sein will.

Tolu: „Es war tatsächlich seine Entscheidung. Anfangs blieb er nicht einmal ohne mich in der Zelle, aber nachdem er gemerkt hat, dass ich immer wieder zurückkomme, weil ich ja aus dem Gefängnis nicht rauskomme, wurde er selbstbewusster. Es hat ihm Zuversicht gegeben, dass er wusste: ‚Mama kann hier nicht raus, und ich finde sie hier immer wieder.‘“

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Was hat Serkan im Gefängnis gelernt?

Tolu: „Er war damals zwei Jahre alt, wir hatten ihm Windeln und Schnuller zu Hause abgewöhnt. Im Gefängnis geriet das alles durcheinander. Bis dato sprach er auch nur Deutsch. Im Gefängnis hat mein Sohn perfekt Türkisch gelernt. Die anderen Häftlinge brachten ihm türkische Lieder und Tänze bei. Das kannte er alles nicht.“

Wie erklärt man einem Kind Gefängnis?

Tolu: „Wenn man weiß, dass man unschuldig ist, kann man es nicht als Strafe erklären. Ich habe Serkan erzählt, dass Gefängnis etwas ist, was wir nicht entscheiden können. Ich habe gesagt: ‚Ich bin hier, aber ich will nicht hier sein. Ich hätte dich freiwillig nie zurückgelassen, und wir werden eines Tages nach Hause gehen.‘ Serkan hat gesehen, wie die Männer mich mitgenommen haben, und so hat er auch verstanden, dass das keine normalen Umstände waren.“

Was hat Ihnen im Gefängnis Kraft gegeben?

Tolu: „Wenn du merkst, wie die Zeit vergeht, ohne, dass es Hoffnung gibt, fällst du in ein tiefes Loch. Ich bekam aber nach einigen Monaten viel Post. Kettenpostkarten, in denen mir fremde Menschen Geschichten erzählten und ich merkte: Obwohl der Staat versuchte, mich abzuriegeln, öffneten mir Fremde ihre Welt. Das hat mich stark gemacht. Es hat mir Hoffnung gemacht, dass Menschen aus Deutschland ohne Furcht mir mit ihren echten Namen und Adressen schreiben und das, obwohl alles im Gefängnis gescannt und archiviert wird.“

Sie sind deutsche Staatsbürgerin. Haben Sie sich von der deutschen Politik im Stich gelassen gefühlt?

Tolu: „Nein. Die deutsche Botschaft wurde sehr lange nicht über meine Inhaftierung informiert. Besuchsanträge wurden abgelehnt. Ich wusste nicht, dass in Berlin jemand meinen Namen kennt. Ich wusste nicht, dass Journalisten die Bundesregierung danach fragen, was aus mir wird. Aber ich hatte auch keine Erwartungen an die Bundesregierung. Ich wollte nie einen Handel oder eine besondere Behandlung, ich wollte nur mein Recht.“

Ihr Verfahren läuft in der Türkei weiter. Wie lange noch?

Tolu: „Meine Anwälte gehen davon aus, dass das Verfahren spätestens nächstes Jahr enden wird. Bisher hat sich inhaltlich nichts bewegt. Auch, wenn ich nicht an dieses Rechtssystem glaube, will ich doch einen Freispruch. Ich will die Freiheit, wieder in die Türkei reisen zu dürfen. Ich will die Freiheit, dorthin fahren zu dürfen, wohin ich will.“

Haben Sie noch Kontakt zu den Frauen aus Ihrer Zelle?

Tolu: „Ich habe sie nach meiner Freilassung einige Male im Gefängnis besucht. Jetzt schreibe ich Briefe.“

Sie sind – nachdem Sie bereits wieder in Deutschland waren – noch einmal in die Türkei gereist, um bei Ihrem Prozess anwesend zu sein. Warum?

Tolu: „Ich wollte Haltung zeigen – auch für meine Kollegen in der Türkei, auf deren Leid keiner schaut. Bei diesem Prozess wurde außerdem die Ausreisesperre für meinen Mann aufgehoben, und er konnte später zu uns nach Deutschland kommen.“

Ihr Buch trägt den Untertitel „Als politische Geisel in türkischer Haft – und warum es noch nicht zu Ende ist“. Warum ist es noch nicht zu Ende?

Tolu: „Weil immer noch Journalisten, Juristen, Akademiker in der Türkei angeklagt und verfolgt werden. Für mich ist diese Geschichte erst vorbei, wenn sich die politische Lage ändert.“

Können Sie sich vorstellen, jemals wieder in Istanbul zu leben?

Tolu: „Ich würde so gern wieder in Istanbul leben. Ich liebe diese Stadt, das ganze Land.“

Muss die Bundesregierung ihre Türkei-Politik ändern?

Tolu: „Die Türkei ist kein verlässlicher Partner. Die Politik Erdogans ist menschenverachtend, menschenrechtsverletzend. Viele Regeln, die die AKP aufgestellt hat, hält sie selbst nicht ein. Die Ergebnisse der Kommunalwahlen werden angefochten, obwohl die AKP immer gesagt hat, der Wille des Volkes zeige sich an der Urne. Die Bundesregierung braucht einen demokratischen Partner und darf ihre Entscheidungen nicht unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten treffen.“

Glauben Sie an eine Türkei ohne AKP-Regierung und Erdogan?

Tolu: „Diese Türkei gab es, und ich glaube fest daran, dass es sie wieder geben wird. Ich weiß aber auch, dass, wenn die AKP und Erdogan eines Tages verschwinden, es nicht so einfach wird. Alle Institutionen sind ausgehöhlt und mit seinen Kadern versehen. Vor der Türkei liegt ein langer Weg zur Demokratie.“

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