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Politik - 16.01.2019

Brexokalypse Now?

Die britische Regierungschefin steht am Abgrund, ihr Brexit-Abkommen mit Brüssel könnte heute im Parlament platzen. BILD erklärt, was auf dem Spiel steht

585 Seiten Brexit-Vertrag, das Ergebnis von zweieinhalb Jahren mühsamer Verhandlungen, könnten sich heute Abend in Luft auflösen. Und die Briten am Mittwoch Morgen inmitten einer Verfassungskrise erwachen.

Theresa May stellt heute ihr Abkommen zum geordneten EU-Austritt im britischen Unterhaus zur Abstimmung, nachdem sie im ersten Anlauf im Dezember gekniffen hatte. Der große Knall gilt als wahrscheinlich. Und dann?

BILD beantwortet die zehn wichtigsten Fragen zum Tag der historischen Entscheidung, die aus Sicht von Theresa May zur „Brexokalypse“ werden könnte, zum Untergang ihrer von Anfang an umstrittenen Brexit-Strategie – und berichtet den ganzen Tag über LIVE.

1. Worüber wird abgestimmt?

Die Abgeordneten des britischen Unterhauses haben sich eine Art Veto-Recht für das Brexit-Abkommen gesichert, können auch auf Zusatz-Bedingungen pochen. Die Abstimmung wird als „meaningful vote“ bezeichnet, als „bedeutungsvolles Votum“, das entweder den Weg zum geordneten Brexit am 29. März ebnet – oder den Weg ins Ungewisse: Chaos-Brexit, Neuwahlen, zweites Referendum über den EU-Verbleib – nichts wäre ausgeschlossen.

2. Wie wird abgestimmt?

Bevor die 650 Abgeordneten über das Vertragswerk abstimmen, das die künftigen Beziehungen zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU regelt, stehen eine Reihe von Änderungsanträgen auf der Tagesordnung.

Einige von ihnen sind so weitreichend, dass sie den Brexit-Vertrag zunichte machen könnten. Die Abgeordneten entscheiden zunächst (etwa 20 Uhr MEZ) über diese Änderungsvorschläge, dann – wahrscheinlich – über die Hauptvorlage.

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Insgesamt benötigt May 318 Stimmen, um den Vertrag durchzubringen (15 Abgeordnete stimmen nicht mit). Ihre Konservativen verfügen über keine eigene Mehrheit. Weil etwa 100 Torys ein Nein angekündigt haben, ist May auf die Unterstützung der nordirischen Partei DUP angewiesen, sowie auf Überläufer der Opposition. In Großbritannien gibt es KEINEN Fraktionszwang.

Fällt die Niederlage gesichtswahrend aus, könnte May versuchen, einen zweiten Anlauf zu nehmen. In London wie in Brüssel wird als maximale Zahl ein Abstand von etwa 40 Abgeordneten genannt.

Sollte der Antrags-Text so stark verändert werden, dass die Regierung selbst bei einer Zustimmung kein Mandat dafür hätte, das Abkommen zu unterzeichnen, wäre eine Abstimmung überflüssig. Für May steckt darin die Chance, dies als Auftrag für Nachverhandlungen mit der EU umzudeuten. Die Brexokalypse wäre verschoben.

3. Was ist der Knackpunkt?

Eine Reihe von Anträgen beschäftigt sich mit der Notfall-Lösung („Backstop“), mit der aus EU-Sicht eine harte Grenze auf der irischen Insel verhindert werden soll. Kritiker in Belfast und London fürchten, dass Nordirland einen dauerhaften Sonderstatus erhält, de facto in der EU verbleiben würde.

Parteifreunde von May fordern vor Inkrafttreten eine Zustimmung des Parlaments. Zudem drängen sie darauf, dass die Auffanglösung binnen eines Jahres wieder aufgehoben wird. Problem: Solche Zusicherungen hat die EU-Seite vom ersten Tag an ausgeschlossen, weil sie ein Wiederaufflammen des Nordirland-Konflikts (3000 Tote bis 1998) befürchtet.

4. Was will die Opposition?

Das fragt sich die britische Öffentlichkeit auch, denn zu einer klaren Linie hat die Labour-Partei in all der Zeit seit dem Referendum nicht gefunden. Ihr Chef Jeremy Corbyn (69) wittert in Neuwahlen seine Chance, die Regierung zu Fall zu bringen. Obwohl sich der Alt-Linke vor dem Brexit-Votum 2016 gegen den EU-Austritt aussprach, sperrt er sich bislang gegen Forderungen in seiner Partei und von wachsenden Volksbewegungen nach einem zweiten Referendum. Stattdessen setzt er auf Neuwahlen und Neuverhandlungen des Brexits.

5. Auf welche Taktik setzt Theresa May ?

May hofft, dass ihr am Montag veröffentlichter Briefwechsel mit der EU-Spitze, in dem Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker und Ratspräsident Donald Tusk Zusicherungen zum Brexit-Abkommen geben, die Trendwende bringt. Sie musste allerdings einräumen, dass es keine zeitliche Begrenzung für den „Backstop“ geben werde.

Im Parlament appellierte sie an ihre Kritiker und Gegner, einen „zweiten Blick“ auf den mit der EU ausgehandelten Ausstiegsvertrag zu werfen. Auch mit Pathos versuchte sie es: „Wenn die Geschichtsbücher geschrieben werden, werden die Leute auf die Entscheidung dieser Kammer morgen blicken und fragen: ‘Haben wir das Votum des Volkes befolgt, die Europäische Union zu verlassen? Haben wir unsere Wirtschaft, unsere Sicherheit und unsere Union beschützt? Oder haben wir das britische Volk im Stich gelassen?‘“

Ein Last-minute-Stimmungsumschwung gilt aber als unwahrscheinlich, zumal die nordirische DUP unwirsch reagierte: „Nichts ist neu. Nichts hat sich verändert“, sagte ein Sprecher.

6. Hat der Deal überhaupt noch eine Chance?

Brexit-Experte Prof. Iain Begg (65) von der London School Of Economics zu BILD: „Einige Abgeordnete haben angekündigt, auf den Kurs der Premierministerin umzuschwenken. Aber es sind nach jetzigem Stand viel zu wenige.“

Mays Niederlage sei unausweichlich, „wenn sie nicht in allerletzter Sekunde ein Kaninchen aus dem Hut zaubert“.

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7. Wäre May im Fall einer Schlappe politisch am Ende?

Umstritten. Laut EU-Austrittsgesetz muss die Regierung spätestens 21 Tage nach der Ablehnung dem Parlament darlegen, wie es weitergehen soll. Jetzt hat das Unterhaus diese Frist theoretisch auf drei Sitzungstage verkürzt – das wäre Montag, 21. Januar. Aber die Regierung fühlt sich daran rechtlich nicht gebunden.

Spätestens sieben Tage nach dem Vorlegen eines „Plan B“ muss die Regierung laut Gesetz darüber abstimmen lassen. Das wäre nach derzeitigem Stand der 31. Januar. Die Abgeordneten könnten diesen Plan B ebenfalls scheitern lassen und die Weichen für ein zweites Referendum stellen. Mit dieser maximalen Schlappe könnte May nicht im Amt bleiben.

Schon jetzt ist eine breite Mehrheit der Abgeordneten der Meinung, sie habe in den Verhandlungen mit Brüssel einen „schlechten Job“ gemacht.

Hupen für Brexit – Gegner und Befürworter des EU-Ausstiegs vor dem Westminster-Parlament in London grüßen vorbeifahrende Autos. @BILD_Politik pic.twitter.com/4SCqhKU0Ea

— Philip E. Fabian (@philip_e_fabian) January 14, 2019

8. Wäre May im Fall eines Siegs gerettet?

Im Gegenteil: der nächste Putschversuch wäre vorprogrammiert. Sollte May sich mit Hilfe von Oppositionsstimmen doch irgendwie gegen den Willen der DUP durchsetzen, könnten sich die Nordiren einem Misstrauensvotum anschließen und May zu Fall bringen.

Innerhalb von 14 Tagen müsste dann eine neue Regierung gebildet werden, sonst gäbe es eine Neuwahl.

9. Wird der Brexit am Ende ganz abgeblasen?

Formal besteht für London bis zum Austrittsdatum (29. März) die Möglichkeit, den Brexit-Antrag ohne Zustimmung der EU einseitig zurückzunehmen. Dies bestätigte der Europäische Gerichtshof. Bitten die Briten die EU um zeitlichen Aufschub, verlängert sich diese Frist.

Ein zweites Referendum könnte die Grundlage für den „Exit vom Brexit“ schaffen. In beiden großen Parteiflügeln gibt es Sympathisanten für diese Idee. Allerdings: Beide Parteichefs sind strikt dagegen.

Ob Großbritannien am Ende in der EU bleiben würde, ist offen. In Umfragen liegen die Austrittsgegner allerdings im Moment recht deutlich vorn, vor allem bei den jüngeren Wählern.

10. Was droht bei einem Chaos-Brexit?

Beziehungen aus 45 Jahren EU-Mitgliedschaft würden schlagartig am 29. März 2019 gekappt.

Sollte es soweit kommen, könnten beide Seiten lediglich Notvereinbarungen schließen. „Einige Regelungen könnten für ein paar Monate verlängert werden“, sagt ein EU-Diplomat. Die EU-Kommission hat dabei insbesondere den Luftverkehr und Aufenthalts- und Visafragen als „vorrangige Bereiche“ identifiziert. Fatal wären die Folgen für die britische Wirtschaft – und wohl auch für die Finanzmärkte. Absehbar ist auch, dass sich die Lage an der Grenze zwischen Irland und Nordirland über Nacht verschärfen würde.

Notfallszenarien gehen von Zoll-Chaos, und vom Zusammenbruch der Versorgungswege aus. Selbst soziale Unruhen und Plünderungen werden nicht ausgeschlossen.

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