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Kultur - 11.07.2019

„Wir machen Big Data mit 1,2 Milliarden Objekten“

Wie sieht die Zukunft des Berliner Naturkundemuseums aus? Direktor Johannes Vogel über Digitalisierung, Provenienzforschung und globale Verantwortung.

30 Millionen Objekte. Der Botaniker Johannes Vogel, Jahrgang 1963, leitet das Naturkundemuseum seit 2012.

Herr Vogel, wie sieht’s im Naturkundemuseum in den Depots aus?

Die Sache ist komplizierter, mich ärgert solche Kritik. Ein Beispiel: Es war nicht Tölpelhaftigkeit der Museumsleute, dass sie die Objekte früher chemisch behandelt haben, sie konservierten nach bestem Wissen und Gewissen. Damals wurde auch noch mit Asbest gebaut. Hinterher ist man immer schlauer.


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Das Berliner Naturkundemuseum bewahrt 30 Millionen Objekte auf. Wie behalten Sie den Überblick?

Wir wissen, was wir haben. Aus einem einfachen Grund: Wir sind eine wissenschaftliche Sammlung, deshalb gehören zu jedem Objekt drei Informationen. Wo ist es her? Wann und von wem wurde es gesammelt? Und idealerweise: Was ist es? Wenn keine dieser Informationen vorliegt, kann das Objekt in den Mülleimer, weil es sich nicht seriös erforschen lässt.

Vergammelt nie etwas?

Wir sind ein Tageslichtmuseum, das Gebäude hatte ursprünglich nicht mal Strom. Licht, Temperatur Luftfeuchtigkeit, wir können die entscheidenden Museums-Parameter nur begrenzt steuern, deshalb geht es nur mit „Gift“. Der große neue Sammlungsbau, der in den kommenden zehn Jahren entsteht, wird auf 14 Grad herunterkühlbar sein. Dort kommen wir dann ohne „Gift“ aus. Es sei denn, der Museumskäfer evolviert und kann sich auch bei zwölf Grad vermehren …

Wie viele Mitarbeiter passen auf, dass alles in Schuss bleibt?

Wenn eine Sammlung aktiv beforscht wird, muss man sich weniger Sorgen machen. Dann sehen die Kolleginnen und Kollegen rechtzeitig, wenn es irgendwo einen Pestausbruch gibt. In der Sammlungsabteilung arbeiten etwa 70 Leute, in der Forschungsabteilung 90, hinzu kommen rund 150 ehrenamtliche Amateurwissenschaftler und 600 bis 700 Gastwissenschaftler pro Jahr. Das sind über tausend Augenpaare. Die Konservierungsarbeit ist übrigens nie abgeschlossen, schon allein, weil jährlich circa 100 000 Objekte aus unseren wissenschaftlichen Projekten hinzukommen.

Wir sind hier in einem Forschungssaal neben dem Hauptsaal mit den Dinosauriern, mit Computern, Archivschränken, Digitalisierungsapparaturen. Im Moment stehen hier lauter verglaste Schubkästen mit aufgespießten Hummeln und Wespen.

Museen müssen entmythologisiert werden. Deshalb haben wir in einem unserer größten, schönsten Säle Arbeitsplätze zur Digitalisierung eingerichtet. 2018 haben wir fast zwei Prozent der erwachsenen Berliner Bevölkerung in Dialogveranstaltungen erreicht. Die Entwicklung und Stabilisierung der demokratischen Wissensgesellschaft durch die Linse Natur, das ist unser Auftrag.

Und wie viel ist bislang digital erfasst?

Etwa zehn Prozent. Unter jedem Insekt klebt ein winziges Label mit Informationen in Sütterlinschrift, die wir mit Spezialkamera und Spiegeln erfassen. Bei manchen sehen Sie auch einen QR-Code. Im Moment schaffen wir etwa 70 Objekte am Tag. Wenn wir das bis auf 700 pro Tag steigern, kommen wir gut durch. Übrigens werden hier auch bald Kameras installiert sein, mit denen Forscher auf anderen Kontinenten unsere Objekte mithilfe eines Joysticks in Augenschein nehmen können.

Nutzen Sie für die Digitalisierung Teile der 660 Millionen Euro, die der Bund und das Land Berlin 2018 für die Modernisierung des Naturkundemuseums bewilligt haben?

Knapp 90 Millionen sind für die vollständige Erfassung der Sammlung vorgesehen, darüber sind wir sehr glücklich. Das sind drei Euro pro Objekt. Eigentlich viel zu wenig für Inventarisierung, bildgebende Verfahren und Erfassung der DNA. Aber wir haben ganz unsexy gründlich aufgeräumt und die Basis für ein zukunftsfähiges Datenmanagement und die Entwicklung der Sammlung geschaffen.

Warum muss man von jeder einzelnen Hummel auch noch die DNA erfassen?

Weil die Forscher damals entschieden haben, dass es drei verschiedene Arten gibt. Über die DNA-Informationen erkennen wir wahrscheinlich Dutzende verschiedene Arten. Wir leben auf einem Planeten mit einer noch unbestimmten Anzahl von Arten, deren Zusammenspiel dafür sorgt, dass Sie und ich hier stehen. Wenn wir weiter so viele Arten ausrotten, wird es auch uns bald nicht mehr geben.

Geht es nur um die Vielfalt?

Die Wespen in dem Kasten da drüben stechen besonders schmerzhaft. Sie helfen, Schmerzempfinden besser zu verstehen. Oder nehmen Sie die Schlupfwespen, die Löcher durch Holz bohren, um ihre Eier in Maden zu legen. Deren Erforschung hat es ermöglicht, dass die Mediziner nun wissen, wie man besonders akkurate viereckige Löcher in Hüftknochen bohrt. So hält das künstliche Hüftgelenk länger. Oder nehmen Sie die langhalsige Giraffe und das kurzhalsige Okapi in Afrika. An deren Halswirbelsäule kann man erforschen, ob sie sich veränderten klimatischen Bedingungen anpassen oder aussterben. Ich muss nicht Giraffen in Afrika schießen oder Zoos in Europa plündern.

Viele Objekte stammen aus kolonialem Kontext. Verändert das Ihre Arbeit?

Wir arbeiten ja – übrigens als eins der wenigen Naturkundemuseen – in einem vielschichtigen Provenienzforschungsprojekt mit universitären Partnern den politischen Kontext der Dinosaurier-Expedition in der damaligen Kolonie Deutsch-Ostafrika auf. Aus heutiger Sicht war es ein Unrechtsregime. Aber ich weiß nicht, wem der Brachiosaurus brancai gehört. Er gehört der Welt. Er kam in teilweise nur faustgroßen Fragmenten zu uns. In nur einem dieser wieder zusammengesetzten Knochen stecken bis zu 400 Arbeitsstunden. Das gesamte Brachiosaurus-Ensemble basiert auf bis zu 200 wissenschaftlichen Publikationen, von denen Sie jede einzelne getrost mit einer Million Euro veranschlagen können. Die kulturelle Leistung, die im Saurier steckt, ist im Berliner Museum erbracht worden. Ich halte es für eine spannende Aufgabe, mit den Kollegen vor Ort Kapazitäten zu schaffen, sodass sie selbst nach Knochen graben und Sauriermodelle rekonstruieren können. Das entspricht auch der Bitte der tansanischen Regierung. Noch etwas: Das Kobalt in unseren Handys kommt über Kinderarbeit und Ausbeutung zu uns. Es heißt nur nicht mehr Kolonialismus, sondern Globalisierung oder Kapitalismus.

Was heißt das für Ihr Museum?

Wir haben eine wirklich globale Sammlung, davon gibt es weltweit nur fünf oder sechs. Wir stehen in der Verantwortung, diese Sammlung der Welt als globales Erbe zur Verfügung zu stellen. Die 60 größten Naturkundesammlungen fangen gerade an, sich zusammenzutun. Wir können eines Tages Big Data machen, mit 1,2 Milliarden Objekten. Ich will nicht abstreiten, dass darin immer noch ein Rest Erhöhung der westlichen Kultur steckt. Wenn in Afrika die Ernte ausfällt, weil bestimmte Bestäuber-Insekten fehlen, kann man hier in den Sammlungen nachgucken, warum. Von frei zugänglichen, digitalen und enzyklopädischen Sammlungen, von dem Wissen um die Objekte können alle überall in der Welt profitieren.

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