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Kultur - 08.01.2019

Wie schreiben und lesen wir in der Zukunft?

Sind binäre Codes und Algorithmen die Alphabete von heute? Ein Essay zum Auftakt der Veranstaltungsreihe „Das Neue Alphabet“ im Haus der Kulturen der Welt.

Die Digitalisierung verändert alles – auch die Art, wie wir lesen und schreiben.

Es geht um Zeichen. Wir können solche Zeichen deuten. Auf große Katastrophen wies einst die „Schrift an der Wand“. Das war ein Zeichen, das Belšazar, der Herrscher, nicht entziffern konnte, der Prophet vermochte es. Oft ist es besser, wir lesen auch das Kleingedruckte, die mikroskopischen Zeichen, in denen sich Entwicklungen vorbereiten. Die Zeichen, deren Deutung für uns wichtig ist, kommen aus verschiedenen Epochen. Die EVOLUTION ist die elementarste der ZEITEN, AUS DENEN ZEICHEN KOMMEN. Sie wird von der DNA regiert und dauert mit Gewissheit an. Es ist aber nicht gesagt, dass ihr Fortschritt auf der Seite des „ganzen Menschen“ stattfindet. Das Maß der Evolution ist nicht der Mensch. Vermutlich findet Evolution extrem kleinteilig, unvermutet und allseitig statt.

Eine enger umgrenzte Epoche, faszinierend und unbekannt, ist die „Geschichte der Menschen vor Erfindung der Schrift“. Das ist die Epoche der MÜNDLICHKEIT. Wir unterschätzen, wie grundlegend sie für uns geblieben ist.

Eine weitere Epoche verbindet sich mit der ERFINDUNG DER SCHRIFT. Das ist die Zeit der Gründung der ersten Städte wie Uruk und Babylon. Mit der Schrift entstehen Wissenschaft, Zivilisation, Gesetz und Kontinuität. Zu ihr gehören die vielen Alphabete im eigentlichen Sinn. Die Schrift war für die Vorfahren ein kultureller Schock. Plötzlich verselbstständigen sich die Worte, kaum sind sie gesprochen, und stellen sich dem Sprecher als autonome Wesen gegenüber. Zugleich dient die Schrift als Zeichensetzung für „Eigentum“ und „Herrschaft“. Sie bildet den Boden der Moderne.

Was an der Realität ist realistisch?

In unserer Gegenwart setzen sich die 4.0-Industrie und DAS DIGITALE ZEITALTER neben die Schriftlichkeit. Sybille Krämer betont, dass die Digitalität selbst eine Form der Schriftlichkeit darstellt. Diese neue Epoche setzt evolutionäre und auch disruptive („revolutionäre“) Schübe in Gang, von denen einige schon nicht mehr zur Natur der Erde gehören, sondern eine ZWEITE NATUR entstehen lassen. Tradierte Wirklichkeit wird durch neue Wirklichkeit ersetzt oder überlagert. Ob wir die neue Zeichensetzung der Algorithmen, Datennetze und der künstlichen Intelligenz in ihrer wahren Dimension verstehen, wissen wir nicht. Wir müssen neu schreiben lernen. Vor allem müssen wir neu lesen: wie sich die Zeichensetzung verändert. Wir fragen: Was sind wir wert, was ist unser Leben im globalen Verwertungsnetz wert? Was ist die Realität und was an der Realität ist realistisch? Wir begegnen einem Chamäleon-Charakter des Wirklichen. Wir müssen doppelt lesen lernen, mitten im „Wandel der Zeichen“: Was ist das Element selbst? Und zu welchen Seifenblasen wandelt es sich unter dem Druck der Umstände?

Es gab immer „beschleunigte Jahrhunderte“. Aber es war nie so radikal wie heute, d. h. „an den Wurzeln zerrend“ (radix = Wurzel). Im 12. Jahrhundert reichte das, was einer in seiner Jugend gelernt und erfahren hatte, nicht aus, sich in der zweiten Hälfte jenes Jahrhunderts zurechtzufinden. Die Antwort war: ERWACHSENENBILDUNG, GRÜNDUNG DER UNIVERSITÄTEN. Vehemente Erneuerung des Lese- und Schreibprogramms Karls des Großen (400 Jahre zuvor), mit leidenschaftlichem Zugriff auf alles Neue, was die Menschen aufstörte.

Ich zähle jetzt nicht auf, wie es in Japan im 19. Jahrhundert zum plötzlichen Ausmarsch aus dem Mittelalter kam, was die Renaissance aus Gründen der Not und der PLÖTZLICHKEIT DER ZEIT an Antworten erfand, was im England des 16. Jahrhunderts den Boden schuf, auf dem 100 Jahre später die frühe Industrialisierung begann. Es gibt jedoch Hinweise, dass sich in unserer Zeit Phänomene des Barockzeitalters, der Gründungsphase des „neuen Menschen“, wiederholen. Tatsächlich brauchen wir für das 21. Jahrhundert die Erneuerung des PRINZIPS WUNDERKAMMER.

Wir Menschen sind keine Einfüßler

So nannten sich Einrichtungen, die, angesichts des gewaltigen Realitätsdrucks und der Schnelligkeit des „Fortschritts“, die VEREINIGUNG SÄMTLICHER KÜNSTE AN EINEM ORT betrieben: keine Fachschranken, Neugier als Hauptsache, keine Trennung des Schönen vom guten Willen, der Wissenschaft von der Praxis, der Magie vom Leben. Wir sehen am Hofe Rudolfs des Zweiten, des wohl einzigen kognitiv interessierten Kaisers unter den Habsburgern, die Alchemisten am Werk. In Nachbarschaft arbeitet der Maler Arcimboldo. Als weiterer Nachbar: Tycho Brahe, der Sternenforscher (von dem der siebenjährige Johannes Kepler seine Prägung erhält). Das ist ein ZIRKUS DER INNOVATIONEN, auf dessen Hochtrapez G. W. Leibniz tanzte. Dass Walter Benjamin in seiner Habilitation „Der Ursprung des deutschen Trauerspiels“ in der Barockzeit die Zeichen der Moderne des 20. Jahrhunderts entdeckte, galt für die damaligen 20er Jahre (die auch disruptiv waren). Aber es muss erst recht gelten für die 20er Jahre unseres 21. Jahrhunderts.

Der Schriftsteller und Filmemacher Alexander Kluge

Von G. W. Leibniz führen zwei (bifurkative) Straßen zum Heute. Die eine liegt verlassen da, die andere hat Stau. Wir Menschen sind keine Einfüßler. Wenn der eine Fuß (der objektiv-vermittelte, der funktionalistische) voranschreitet, ein zweiter aber nicht da ist (der subjektive, der träumerische), bewegt sich auf beiden Fahrbahnen nichts. Monaden (wir Menschen, aber auch die Dinge) sind nämlich Besonderheiten, Besonderheiten verständigen sich und verkehren nur mit anderen Besonderheiten oder der besonderen, stets auch eigensinnigen Seite ihres Gegenübers. Das setzt den Betonpisten der Informatik und jeder weltbeherrschenden Organisation feste, undurchbrechbare Grenzen. Rennt eine Gesellschaft gegen eine solche Wand, wird das ein Unfall sein.

Das alles stellt die Frage auf neue Weise: „Was ist Realität?“ Schon bei Arcimboldo (oder bei Goya) verschränken sich Wirkliches und ganz Unwirkliches untrennbar zu Monstren. Die Gesichtszüge eines Menschen sind bei Arcimboldo zugleich Pflanzen oder Dinge. Die Frage hat sich in unserer Zeit verschärft: Was unter Bedingungen des DIGITALEN KAPITALISMUS ist genuin und wirklich und was ist Attrappe (Papiertiger, nur „real-existierend“)? Das ist für das bloße Auge nicht ersichtlich. Deshalb: NEU LESEN, NEU LERNEN. Unrealistisch ist nämlich auch, was objektive Gewalt hat, sogar was die Zustimmung der Kunden besitzt, wenn es sich um die subjektive Seite der Menschen nicht kümmert.

Die ist nämlich in ihrem fast unmerklichen Widerstand härter als der Beton der kommunikativen Autobahnen. Die wirren, kompakten Verhältnisse unserer Welt müssen wir uns neu aneignen und umsortieren, wie es im Märchen die Tauben mit ihren Töpfen taten. NEU LESEN UND NEU SCHREIBEN heißt: die Realität erst noch herstellen, sie konstruieren. Nicht das Vorgefundene nachkauen. Ohne NEU LESEN keine Architektur des Realen. Wir arbeiten, ohne es schon zu wissen, an einem Neuanfang, einer Stunde null. Ähnlich wie es die Trümmerfrauen 1945 taten, die die Elemente, die Backsteine, neu putzten für den Wiederaufbau. Andernfalls bleiben wir in Trümmern wohnen.

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