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Kultur - 24.01.2019

Warum Holocaust-Überlebende sich wieder bedroht fühlen

Der Porträtband „Unfassbare Wunder“ lässt Holocaust-Überlebende sprechen. Viele von ihnen fürchten die neue Rechte – und machen keinen Hehl daraus.

Eva Umlauf ist als zweijähriges Kind nach Auschwitz deportiert worden.

Marko Feingold ist stolze 105 Jahre alt. Auf gute Kleidung legt er nach wie vor großen Wert. Feingold trug einen Anzug, als er 1939 als einer der ersten Juden in Österreich verhaftet und deportiert wurde. Er wurde ihm gleich abgenommen. Doch das gute Stück ging all die schrecklichen Jahre nicht verloren.

Auschwitz, Neuengamme, Dachau und Buchenwald – der Anzug folgte Feingolds Leidensweg bis zur Befreiung. 1945 bekam Feingold Jackett und Hose wieder ausgehändigt. „Es geht nichts über eine gründliche Verwaltung. Der Anzug war tipptopp.“ Ja, der Humor ist ihm nie abhandengekommen. „Man wollte mich in den Tod befördern, von Lager zu Lager. Aber ich sitz’ noch immer da und hab’ die meisten von denen, die damals auf Posten gesessen haben, überlebt.“

Der Nazi-Mordmaschinerie entkommen

Auch Eva Umlauf hat die Hölle überstanden. Vielleicht weil sie einfach Glück hatte. Am 3. November 1944 kam sie als zweijähriges Kind mit ihrer Mutter nach Auschwitz. Es war der erste Transport, dessen zusammengepferchte Insassen nicht sofort in die Gaskammern gebracht wurden. Noch eine Woche zuvor waren fast 1700 Ankömmlinge direkt von der Rampe in den Tod geschickt worden.

Eva bekam wie ihre Mutter eine Nummer in den kleinen Arm eingraviert: A-26959. Die Nummer begleitet sie ihr Leben lang. Nie ist es der Münchnerin, die in der heutigen Slowakei geboren wurde, in den Sinn gekommen, die inzwischen blassblauen Ziffern entfernen zu lassen. „Das gehört zu meiner Identität.“

Marko Feingold und Eva Umlauf sind zwei von 25 Jüdinnen und Juden, die Alexandra Föderl-Schmid in ihrem Buch „Unfassbare Wunder“ porträtiert. Wunder: Nichts anderes hat diese Menschen überleben lassen, denn die Nazis und all ihre Schergen wollten sie vernichten. Unfassbare sechs Millionen Mal ist ihnen das gelungen.

Traurigkeit, Schmerz, aber auch Lebenskraft und Stolz

Dennoch sind viele Todgeweihte der deutschen Holocaust-Mordmaschinerie entkommen. Marko Feingold kann sich das selbst nicht so recht erklären. „Zufall“, sagt er. „Denn sonst hätte es 20 Wunder geben müssen.“

Föderl-Schmid lässt die 25 Frauen und Männer ihre Geschichten erzählen. Es sind Österreicher, Israelis und Deutsche, die berichten, was sie durchgemacht haben und wie der Holocaust sie bis heute prägt. Die Autorin und Israel-Korrespondentin der „Süddeutschen Zeitung“ gibt ihnen eine Stimme, einfühlsame Texte sind es geworden. Über Menschen, die etwas zu sagen haben und denen sich die Vergangenheit ins Gesicht gegraben hat.

Traurigkeit, Einsamkeit, Schmerz, aber auch Lebenskraft und Stolz – all das spiegelt sich in den Bildern der Überlebenden. Das kommt nicht von ungefähr. Die Fotos hat Konrad Rufus Müller gemacht. Der Mann, der vor allem durch seine Kanzlerporträts bekannt wurde und den Anstoß zu dem Buchprojekt gab, schafft mit seinen Schwarz-Weiß-Aufnahmen eine diskrete, gleichwohl mitfühlende Nähe. Und das, wie er sagt, indem er hochachtungsvolle Distanz wahrte.

Geschärfter Blick für die Gegenwart

Noch etwas zeichnet „Unfassbare Wunder“ aus. Die mehr als 180 Seiten sind ein Weckruf, im Grunde sogar eine Warnung. Die schlimmen Erfahrungen der Verfolgung unter den Nazis hat den Blick der 25 Protagonisten des Buchs „auf Ereignisse der Gegenwart geschärft“, wie Föderl-Schmid schreibt.

Sicher, es gibt unterschiedliche Perspektiven. „Aber alle registrieren sehr genau, worüber berichtet wird: immer mehr antisemitische Vorfälle in Deutschland und die Regierungsbeteiligung der FPÖ in Österreich. Das löst bei den Überlebenden der Schoah vieles aus.“ Zum Beispiel das Gefühl der Bedrohung. Einige der Porträtierten sind deshalb in großer Sorge. Und machen keinen Hehl daraus. Ihre Botschaft: Seid wachsam!

„Die Stimmung schaukelt sich hoch“

Roman Haller gehört zu diesen Wachsamen, die in „Unfassbare Wunder“ die Gegenwart kritisch sehen. Seine Befürchtungen hätten sich in den vergangenen Jahren bestätigt, sagt der Deutschland-Direktor der Jewish Claims Conference, einer Organisation, die sich um die Entschädigung von Holocaustopfern kümmert. „Wir haben eine sehr starke Rechte, wir haben eine sehr starke AfD. Wir haben eine antisemitische Linke. Wir haben den Zuzug von Menschen aus Ländern, wo Antisemitismus sehr stark den Menschen eingepflanzt wird.“ Die Stimmung schaukele sich hoch. Diese fatale Gemengelage macht ihm Angst.

Damit steht Roman Haller nicht allein. Im Dezember veröffentlichte die EU-Agentur für Grundrechte Ergebnisse einer groß angelegten Befragung von Juden und Jüdinnen in zwölf Mitgliedsstaaten der Union. Demnach sind 90 Prozent der Meinung, dass Antisemitismus in ihren Ländern zunimmt. Und 30 Prozent sind belästigt worden – vor allem, wenn sie sich als jüdisch zu erkennen gaben.

Marko Feingold ist heute 105 Jahre alt und hat vier Konzentrationslager überstanden.

Erst vor wenigen Tagen sagte Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland: „Dass das Thema Antisemitismus in der Form, wie wir es in den letzten zwei Jahren erleben, einen solch hohen Stellenwert einnimmt, daran habe ich nicht einmal im Albtraum gedacht.“ Die Gefahr komme vor allem von der rechten Seite.

Auch Schuster macht die AfD für das verschärfte Klima verantwortlich. Jetzt ist die Partei vom Bundesamt für Verfassungsschutz zum „Prüffall“ erklärt worden. Viele Juden fragen sich verwundert: Was gibt es denn da noch zu prüfen? Nur wer Augen und Ohren verschließe, könne nicht sehen und hören, welch Geistes Kind die AfD sei.

Warnung vor der AfD

Charlotte Knobloch, Holocaust-Überlebende und seit 1985 an der Spitze der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, geht noch einen Schritt weiter. Im Buch wird sie mit dem Satz zitiert: „Wenn die AfD eine willige Mehrheitsregierung an der Seite hat, wird das jüdische Leben ausgelöscht. Wie kann dann ein gläubiger Jude noch hier leben? Im Parteiprogramm steht: Verbot des Schächtens, Verbot der Beschneidung, Verbot der finanziellen Zuschüsse. Man muss uns nicht umbringen, man kann es auch so machen.“

Das Buch „Unfassbare Wunder“ kommt zur rechten Zeit. Es sensibilisiert, ohne einem eine Haltung aufdrücken zu wollen. Zuvorderst geht es den Porträtierten darum, zu schildern, was in der Finsternis der Nazizeit geschehen ist. Schlussfolgern können die Leser selbst.

Im Text über Eva Umlauf wird ein Gedicht von Jan Karski zitiert, der ihr Überleben zum Thema hat. Und es fasst die Intention des Buchs treffend zusammen.

„die nummer an deinem unterarm

ist blau wie deine augen

wie der stumme himmel über novaky

dein bauch war geschwollen

wie ein ballon

als sie dich fanden im fernen auschwitz

niemand konnte glauben

dass du leben würdest

dass du zurückkehren würdest

um zeugnis abzulegen

für dein zerbrochenes heim“

Alexandra Förderl-Schmid, Konrad Rufus Müller: Unfassbare Wunder. Gespräche mit Holocaust-Überlebenden in Deutschland,Österreich und Israel. Böhlau 2019, 183 S., 35 €.

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