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Kultur - 05.06.2019

„Vor unserer Haustür liegt die ganze Welt“

Mathias Énard erhält den Leipziger Buchpreis für Europäische Verständigung. Im Interview spricht er über exotische Länder, den globalisierten Islam und seinen Roman „Kompass“.

Weltreisender. Mathias Énard, 1972 geboren, wird für seinen Roman „Kompass“ mit dem Leipziger Buchpreis für Europäische…

Brüssel, Abbaye de la Cambre. Das alte Zisterzienserkloster beherbergt die École nationale supérieure des Arts visuels, die neuerdings auch literarische Kurse bietet. Der französische Schriftsteller Mathias Énard, 45, unterrichtet hier zum ersten Mal in seinem Leben Creative Writing. Der Durchbruch gelang ihm 2008 mit dem aus einem einzigen Satz bestehenden Roman „Zone“. Es ist der rasende Bewusstseinsstrom eines Mannes, der während der Balkankriege als Söldner in kroatischen Diensten stand. In der Polyphonie des Textes spiegelt sich das Barbarische der gesamten Menschheitsgeschichte. Auch Énards Meisterwerk „Kompass“ („Boussole“), für den er 2015 in Frankreich den Prix Goncourt erhielt, hat etwas Monomanisches.

Der Wiener Musikwissenschaftler Franz Ritter lässt hier sein Leben in einer einzigen Nacht Revue passieren. Unter dem Schock einer ominösen Krankheitsdiagnose erinnert er sich an seine Reisen nach Damaskus, Aleppo und Teheran – und an seine verquere Liebe zu der Orientalistin Sarah. Vor allem ist „Kompass“ aber eine kulturhistorische Reflexion über das Eigene und das Fremde, über Verschmelzungssehnsucht und Selbstaufgabe, voller authentischer Gestalten wie Robert Musils orientgelehrtem Bruder Alois Musil, dem zum Islam konvertierten österreichischen Juden Leopold Weiss, der manischen Reisenden Annemarie Schwarzenbach oder dem nach Paris geflüchteten iranischen Schriftsteller Sadeq Hedayat. Am frühen Abend entlässt Énard seine Studenten in den Brüsseler Regen. Er ist vom Unterrichten noch immer in Fahrt und gibt temperamentvoll Auskunft über sein Denken und Schreiben.

Monsieur Énard, in Ihrem Roman „Kompass“ erkunden Sie die abenteuerliche Verflechtung von Orient und Okzident. Haben Sie in der morgenländischen Kultur etwas gefunden, das Ihnen in der abendländischen gefehlt hat?

Ich würde es anders ausdrücken. Meine Leidenschaft für den Orient hat sich weniger daraus ergeben, dass ich etwas vermisst habe, als durch Begegnungen mit der klassischen arabischen und persischen Literatur, mit der von Hafis oder Rumi. Dieser Ozean überwiegend mittelalterlicher Dichtung ist für mich bis heute eine Quelle der Inspiration.

Goethe und Victor Hugo haben ihren Sehnsuchtsorient nie mit eigenen Augen gesehen. Auch Sie hatten nichts als eine Fantasie, bevor Sie nach Damaskus, Beirut und Teheran kamen. Hätte der von Ihnen zitierte Heinrich Heine Sie mit der Frage ärgern können, die er an Théophile Gautier richtete: „Wie werden Sie es anstellen, vom Orient zu sprechen, wenn Sie erst einmal dort gewesen sind?“

Ich bin in Niort aufgewachsen, einer kleinen Stadt im Westen Frankreichs, und habe mich früh für exotische Welten interessiert. Das hat mich nicht davon abgehalten, von ihrem wirklichen Reichtum überwältigt zu sein, als ich mit ihnen tatsächlich in Berührung kam. Aber man kann Realität und Imagination nicht einfach gegeneinander ausspielen. Sie leben immer nebeneinanderher. Noch heute geht denen, die aus dem Mittleren Osten nach Europa kommen, ein Fantasma voraus. Aber sicher war es zwischen Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts, als die Handelsbeziehungen beschränkt waren, sehr viel wirkmächtiger. Die erste Berliner Moschee entstand erst nach dem Ersten Weltkrieg, 1924 in Wilmersdorf, das ist ziemlich spät.

Sie leben seit 18 Jahren in Barcelona, in einem Land, das der arabischen Welt seit jeher besonders nahe ist. Was heißt es für Sie, eine Heimat zu haben, ein Wort, das es im Französischen gar nicht gibt?

Vielleicht ist es ein Klischee, das zu sagen, aber ich lebe vor allem in meiner Sprache. Ich bin in Barcelona auch kein Exilant. Diese Stadt mit ihren Sprachen, ihren Menschen und Orten ist ein Teil von mir geworden. Und von Frankreich trennen mich 150 Kilometer. Dieses Gefühl von Zuhausesein hat sehr viel mit Augenblicksempfindungen zu tun, auch mit Dingen, die man im Land seiner Geburt womöglich verachtet.

Exotismus ist immer das falsche Fremde, die bloße Oberfläche. Warum macht man ihn immer nur dem eurozentrischen Blick zum Vorwurf?
Natürlich gibt es Exotismus in alle Richtungen. Um ein extremes Beispiel zu nehmen: Es ist schon seltsam, wie der Islamische Staat Europa als heidnische Hölle und das monströse Andere betrachtet. Zugleich steckt eine ungeheure Idealisierung darin, die Vereinigten Staaten oder Westeuropa als Paradies hinzustellen. Ein deformiertes Bild des Anderen kann jeder haben.

Im Unterschied zu Edward Saids legendärer Kampfschrift „Orientalismus“ wollen Sie von der einseitigen Herrschaft des Okzidents über den Orient nichts wissen. Sie beschreiben, wie der saudische Wahhabismus die verschleierten Prinzessinnen und fliegenden Teppiche von Walt Disney in die Bilder von sich selbst übernimmt.

Edward Said hat seine Überlegungen in einer Welt entwickelt, die sich über ihre Globalisierung erst noch klar werden musste. Diese Herrschaft des einen Teils der Welt über den anderen hat dazu geführt, dass etwas entstanden ist, was er Othering nennt. Aber das ist über 40 Jahre her. Die saudische Kultur hat Walt Disney in einem Maß assimiliert, das sich nicht mehr als amerikanische Dominanz deuten lässt. Das Bewusstsein dafür, woher bestimmte Elemente kommen, geht irgendwann verloren.

Für Saids Konzept des Othering war mit der bloßen Kenntlichmachung des Anderen dessen Ausgrenzung verbunden. Hat die koloniale Aneignung fremder Kulturen neben reiner Ausbeutung nicht auch zu einem Austausch geführt?

Die Fragen, die sich aus Saids Denken ergeben, liegen heute in der Nuancierung. Jedes europäische Land hat seinen eigenen Orientalismus. Deutschlands Kolonien lagen bekanntlich in Afrika und im Pazifik. Die Momente der Aneignung haben auch eine Welle von Veränderungen für Europa mit sich gebracht. Die Revolution der Romantik, die Umbrüche des 19. Jahrhunderts, alles, was schließlich drei Viertel Europas in die parlamentarische Demokratie geführt hat, hängt damit zusammen und ist wiederum in den Orient zurückgekehrt – bis hin zum Nationalismus mancher Bewegungen.

Die zeitgenössische Weltmusik treibt diesen Austausch auf die Spitze. Trägt das zur Völkerverständigung bei, oder gefällt es sich nur im blinden „We Are The World“?

Die Neigung dazu gibt es auch im Kino oder der Literatur. An der Oberfläche ist überall eine gewaltige Hybridisierung entstanden. In den Großstädten findet sich fast die ganze Welt vor der Haustür. In Berlin macht man erst einen Spaziergang am Tempelhofer Feld entlang zur Sehitlik-Moschee und überlegt sich, ob man danach indisch oder vietnamesisch essen geht.

Aber hat diese Verfügbarkeit nicht etwas Verlogenes, rein Konsumistisches?

Sie ist insofern keine Lüge, als sie eine Wirklichkeit ist. Man kann sie auf allen Ebenen finden. Paul Simon ging für „Graceland“ mit südafrikanischen Musikern ins Studio, der pakistanische Sufi-Sänger Nusrat Fateh Ali Khan hat sich von westlichen Popmusikern einladen lassen. Das ist das Niveau, auf dem die Globalisierung stattfindet.

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