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Kultur - 15.12.2018

Und jetzt noch der Auftrag für die Sonntagsmatinee

Neues aus der Gesamtmerkwürdigkeit des Liebens und Lebens: Wilhelm Genazinos neuer Roman „Außer uns spricht niemand über uns“.

Der Autor als Wahrnehmungsfetischist: Wilhelm Genazino, 73

In einer Zeit, in der der Suizid die Nachrichten dominiert, in Form des erweiterten Selbstmords oder als Selbstmordattentat, scheint der still vollzogene Selbstmord eine Seltenheit geworden zu sein. Dabei ist diese Form des Suizids die viel häufigere, gewöhnlichere – und sie lässt die Angehörigen in der Regel genauso rat- und hilflos zurück wie derzeit die breite Öffentlichkeit nach Nizza, München und Ansbach.

Genau so empfindet auch der Ich-Erzähler von Wilhelm Genazinos neuem Roman „Außer uns spricht niemand über uns“. Seine Freundin Carola, die ihn erst vor Kurzem verlassen hatte, hat sich das Leben genommen, das „war für alle, die Carola kannten, ein Schock“. Und nach der Benennung diverser Gründe, die Carolas Bekannte und Freunde für die Tat anführen, schließt Genazinos Erzähler mit der Erkenntnis, warum die sogenannten Hinterbliebenen häufig mit Rückzug reagieren: „Natürlich nicht, weil ihnen nach Abkapselung ist, sondern weil sie ohne Gegenwehr und fassungslos miterleben müssen, dass die verquatschte Fernsehgesellschaft vergessen hatte, dass wir das Private nicht ohne weiteres vergesellschaften können.“

Verquatschte Fernsehgesellschaft

Nun war dieser Genazino-Mann schon vor dem Freitod seiner Freundin kein Gesellschaftslöwe. Vertraut mit den Gesamtmerkwürdigkeiten des Lebens, streift er durch die Straßen Frankfurts und schaut zumeist Frauen dabei zu, wie sie Mülltonnen verrückenVer, mit weißen Teddybären im Arm herumlaufen oder sich in der U-Bahn die Hände eincremen. Oder er betrachtet ältere Menschen „in zerschundener Kleidung, mit Krücken und Brotbeuteln“ oder „vernachlässigte Menschen“ mit Rucksäcken und zusammengerollten Kunststoffdecken unterm Arm, auch Motten, Heuschrecken oder Tauben entgehen seiner Aufmerksamkeit nicht.

Überdies macht er sich Gedanken über sein Heimweh, seine Sehnsucht, ein zusammenhängendes, ja, bedeutsames Leben zu führen, über die vielen Anzeichen des Alters – er dürfte so um die 55, 60 Jahre alt sein – und auch darüber, beruflich langsam aussortiert zu werden: Die Arbeit beim Radio als Sprecher und Nachrichten- oder Romanvorleser wird weniger, als Schauspieler ist er sowieso gescheitert, und nur ab und an rufen „belanglose“ Theater oder „mittelgroße“ Kleiderfabriken an, um ihm Moderationen von „Sonntagsmatineen“ oder Modenschauen anzubieten. Viel regelmäßigen Kontakt jedenfalls hat dieser alternde Mann nicht, nur zu einer ihm Aufträge verschaffenden Kollegin beim Radio und eben zu Carola, seiner Freundin. Mit der teilt er nicht die Wohnung, aber oft das Bett. Sie will irgendwann auch ein Kind von ihm haben, wird schwanger, verliert aber das Kind ganz bewusst – und verlässt ihn dann ziemlich unvermittelt.

Bei Genazino gibt es selbst noch „Hawaii-Toast“

Es ist ein unspektakuläres, mitunter deprimierendes Leben, ein „sich langsam fortfressendes Desaster“, an dem Genazino seine Leser teilhaben lässt – wieder einmal, muss man sagen. Denn dieser Genazino-Held unterscheidet sich allenfalls in Nuancen von den Helden seiner anderen Romane, die Genazino geradezu seriell alle zwei bis drei Jahre in immer gleicher Länge produziert.

Dabei spielt trotz allen Gedankendrängens, trotz des Wahrnehmungsfetischismus der Sex die Hauptrolle – der befriedigende wie der oft unbefriedigende, seltsam anmutende. Und zudem, damit durchaus in Zusammenhang stehend, die Beziehung zu seiner lange verstorbenen Mutter, „die ödipalen Schatten“, die auf ihm lasten, überhaupt die Erinnerungen an die Eltern und seine Kindheit und Jugend. Viel Scham, viel Unbewältigtes, das in diesem Leben sicher nicht mehr bewältigt wird, schwingt hier mit, das Bewusstsein einer diffusen Schuld, die nicht mehr abzutragen ist.

Wilhelm Genazino schreibt oft tolle, hintersinnige Sätze und gestaltet witzige Szenen – zum Beispiel, wenn Carola ihrem Freund vorwirft, dass er abgelegte Bücher immer per Fußtritt unter seine Regale befördere, er ihr dann aber mehrmals beweist, dass er genau weiß, welche Bücher da unter welchen Regalen genau im Staub liegen, so Scott Fitzgeralds „Zärtlich ist die Nacht“ oder Peter Weiss’ „Fluchtpunkt“. Auffallend ist, dass Genazinos Held sich der Überholtheit mancher Dinge sehr bewusst ist, dass er den Eindruck hat, von der Wirklichkeit „verramscht“ zu werden. Manche der Formulierungen in diesem unablässigen Redestrom aber demonstrieren selbst eine gewisse Abgeschafftheit und Wirklichkeitsentrücktheit: „Besetzungsbüro“, „Rundfunk“, „Sonntagsmatinee“, ja, selbst „Hawaii-Toast“ gibt es hier noch.

Wer sagt, dass Literatur Trost zu spenden hat?

Man fragt sich, in welcher Zeit Genazino und seine Figuren eigentlich leben, zumal sie weder per Mail oder Handy kommunizieren, noch der Erzähler bei aller gesteigerter Aufmerksamkeit registriert, dass Straßen und öffentliche Verkehrsmittel voller Menschen sind, die auf ihr Smartphone starren. Es scheint, als wolle Genazino sich seine „Realgegenwart“ nicht einfach so nehmen lassen, als setze er seine eigene, oft düster anmutende Welt mit den vielen herumirrenden Frauen, Kindern, Tieren und Obdachlosen der virtuellen Parallelwelt entgegen. Seht her, das gibt es noch! Analog ist nicht besser, sondern härter. 

Am Ende weiß man nicht, ob man nun lachen oder sich grämen soll. Lachen darüber, wie sich der Held in ödipalen Überblendungen mit der Mutter seiner verstorbenen Freundin einlässt. Oder grämen angesichts einer Genazino-Welt, in der sich der Erzähler fragt: „Warum sahen so viele Leute verloren und verlassen und sogar verhöhnt aus?“ Und dann zu einer weiteren Erkenntnis über den Selbstmord kommt: „Jeder kannte aus seinem eigenen Leben hoffnungslose Situationen, auf die ein Selbstmord eine Antwort hätte sein können. Aber rätselhaft war nicht, warum es Selbstmörder gab. Rätselhaft war, warum so viele Menschen ihre schwierigen Existenzen aushielten, ohne Selbstmörder zu werden.“

Tröstlich ist das gewiss nicht. Doch wer sagt, dass Literatur Trost zu spenden hat? Nur gut, dass Genazinos Helden nicht nur schwierige Existenzen führen, sondern diese auch etwas Lächerliches haben und manchmal komisch sind. Vermutlich fühlt man sich deshalb jedes Mal aufs Neue zu dieser (Literatur-)Wirklichkeit so hingezogen.
Wilhelm Genazino: Außer uns spricht niemand über uns. Roman. Hanser Verlag, München 2016. 155 Seiten, 18 €.

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