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Kultur - 09.01.2019

„Überall war Öffentlichkeit“

Der Schriftsteller Ingo Schulze über den Mauerfall, verpasste Chancen – und die Sehnsucht nach der Demokratie, wie sie vor 1989 war.

Ingo Schulze, geboren 1962 in Dresden.

Herr Schulze, Sie haben den Mauerfall vor 25 Jahren verschlafen?

Ja. Ich war damals Dramaturg am Theater in Altenburg und ausnahmsweise früh ins Bett gegangen. Als ich am nächsten Tag aufwachte, war die Mauer weg. Ich fand das natürlich wunderbar und sah dann am Morgen bereits auf dem Marktplatz von Altenburg vor dem Amt der Volkspolizei eine Schlange von Menschen, die für einen Stempel zur Ausreise in den Westen anstanden. Da wurde mir mulmig.

Warum?

Ich fürchtete, jetzt käme kaum noch jemand zu Demonstrationen. Aber so war es dann nicht. Für mich war das noch stärkere Erlebnis am 10. September ’89 die Öffnung der ungarischen Grenze. Das betraf nicht nur die Deutschen, sondern war ein internationales Signal: ein erstes Loch im Eisernen Vorhang, der die Welt geteilt hat. Und das wirkliche Entscheidende geschah doch schon am 9. Oktober, als bei der großen Montagsdemo in Leipzig und in anderen Städten die Sicherheitskräfte nicht einschritten. Ich bin selber dabei gewesen und hatte Angst. Aber als sich die Staatsmacht vor 70 000 friedlichen Bürgern zurückzog und auf eine „chinesische Lösung“ verzichtete, hatte man das Gefühl, ab sofort in einem freieren Land zu leben. Es gab eine Aufbruchsstimmung in den Betrieben, im Alltag – da lag der Mauerfall nur auf dem Weg.

Die plötzlich geöffneten Übergänge in Berlin, der enthusiastische Tanz auf der Mauer, die Durchbrüche durch Todesstreifen und Beton waren dennoch die weltweiten Symbole.

Sicher, das wirkte spektakulär, es waren tolle Szenen. Ich bedauere manchmal, dass die Leipziger Demonstrationen nur so schlechte Bilder hergaben! (lacht) Dort lag ja die eigentliche Dramatik.

Ihre Freude nach dem 9. November hielt sich in Grenzen?

Die Freude galt erst mal dem, was innerhalb der DDR geschah. Mit dem Mauerfall ist das Theater für mich uninteressant geworden. Alles andere war jetzt interessanter. Vorher boten nur die Theater und die Kirche der politischen Kritik eineBühne, nun fand die gesellschaftliche Debatte in aller Öffentlichkeit statt. Zeitungen und Fernsehen nahmen endlich ihre Aufgaben wahr, man staunte, wie interessant diese Partei-Käseblätter plötzlich waren.

Auch Sie wurden nun Journalist.

Überall war Öffentlichkeit. Ich kaufte mir sogar ein zweites Radio fürs Klo, um selbst dort nichts zu verpassen.

Und mit Freunden gründeten Sie in der thüringischen Kleinstadt Altenburg eine eigene Zeitung.

Das „Altenburger Wochenblatt“, das erschien immer donnerstags im sogenannten halbrheinischen Format …

… etwas kleiner als der Tagesspiegel …

… das Format, das die Betriebszeitungen hatten, die alle eingingen, und wir profitierten von den freien Kapazitäten der Druckerei. Wir schrieben und kämpften für die neue Freiheit, doch ich war auf einmal der unfreieste Mensch. Wir waren nur drei, vier Leute, ich hatte in Jena Klassische Philologie studiert, einer war Lektor, einer kam von der Leipziger Uni, meine Freundin vom Altenburger Theater hat noch mitgeholfen, und wir hatten eine Sekretärin von der „Leipziger Volkszeitung“ abgeworben. Den Vertrieb hat ein Gärtner gemacht. In der Nacht vom Sonntag zum Montag mussten wir immer zwölf Seiten – das war noch Bleisatz – zum Druck nach Leipzig bringen, in der nächsten Nacht noch mal vier Seiten, am Mittwoch wurde Korrektur gelesen, dann gleich wieder recherchieren, schreiben, umbrechen. Wir haben anderthalb Jahre durchgehalten.

Welche Auflage hatten Sie?

Anfangs 20 000 Exemplare, am Ende immerhin noch 7000, für 90 Pfennig das Stück. Altenburg hatte 45 000 Einwohner, wir belieferten die ganze Region. Aufgegeben haben wir die Zeitung, weil wir glaubten, dass wir die zwei, drei Artikel, die uns wichtig waren, auch in einem Anzeigenblatt mit viel größerer Verbreitung bringen konnten. Das machten wir eine Weile und hatten 120 000 Auflage. Aber niemand erzählt seine Geschichte in einem Anzeigenblatt. Und darum ging es: Unsere Geschichte mitzubestimmen, indem die Leute ihre Geschichte, ihre Anliegen endlich erzählen und lesen konnten. Manchmal konnten wir helfen, den einen oder anderen öffentlich zu rehabilitieren oder zu verhindern, dass irgendein Manager einen Betrieb gegen den Willen der Belegschaft übernahm. Oft haben wir auch böse danebengehauen. Wir waren ja Anfänger, auch wirtschaftlich, ich hatte zunächst keine Ahnung, was „cash“ bedeutet oder was die Mehrwertsteuer war. Trotzdem hat die Zeitung in dieser Übergangsphase gut funktioniert.

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