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Kultur - 15.12.2018

Über Grenzen und Geschlechterrollen in Indien

Private Schicksale und Spuren der Geschichte: Das Kunstmuseum Wolfsburg zeigt Arbeiten von sechs zeitgenössischen Künstlerinnen aus Indien.

Zahn der Zeit. Detail aus Mithu Sens Installation „Border Unseen“ (2014).

Ein Gebirge aus geschmolzenen Gebissen empfängt die Besucher. Mithu Sen kehrt mit ihrer Installation „Border Unseen“ das Innere nach außen und provoziert mit dem rosa Ring aus Zahnprothesen zugleich Ekel und Erregung. Er funktioniert wie ein Rorschach-Test: Die Assoziationsmöglichkeiten sind grenzenlos.

„Facing India“ heißt die von Uta Ruhkamp kuratierte Ausstellung im Kunstmuseum Wolfsburg. Wer aber ist das unausgesprochene Subjekt, das hier den Blick auf Indien richtet? Sind es die sechs ausstellenden Künstlerinnen, die dem Land, in dem sie leben und arbeiten, entgegentreten? Oder sind es die deutschen Museumsbesucher, die deren Werke in der Hoffnung betrachten, etwas über den Subkontinent und seine 1,3 Milliarden Einwohner zu erfahren? Und was, wenn die Werke, wie bei Mithu Sen, zurückblicken? Sens ungesehene Grenze jedenfalls mahnt gleich zu Beginn der Ausstellung, Distanz zu wahren.

Diese Distanz ist hilfreich, um zu sehen, wie die Künstlerinnen Spuren der indischen Geschichte und Gegenwart in ihre Werke tragen. Unter Premierminister Narendra Modi steht Indien einerseits für wirtschaftlichen Aufschwung und eine fortschreitende Digitalisierung. Andererseits erstarkt mit seiner konservativen Indischen Volkspartei (BJP) der Hindu-Nationalismus, dessen radikalere Anhänger sich über Frauen und Minderheiten in einer Weise äußern, dass Kopfschütteln nicht ausreicht.

Einige Frauen sind von Kummer zerfurcht, andere ruhen in sich selbst

So wirkt es nur folgerichtig, dass die wiederkehrenden Motive der Werke Grenzen und der weibliche Körper sind. So auch bei Bharti Kher, der wahrscheinlich bekanntesten der ausstellenden Künstlerinnen. Sie wuchs in London auf und zog in den Neunzigern nach Neu-Delhi. Kher interessiert sich für die Geschichten von Objekten. Kunst, sagte sie einmal, entstehe, wenn man ein Material dazu bringe, etwas zu tun, wofür es nicht gedacht sei. Für ihren „Deaf Room“ ließ sie gläserne Armreife einschmelzen, zu Bausteinen umformen und errichtete aus ihnen einen u-förmigen Raum, den man durch einen schmalen Spalt betritt. Der Klang der Armreife ist verstummt, die Bewegung einer Frau erstarrt: Es entsteht eine dunkle, stille, statische Zelle.

Schräg dahinter befinden sich Khers „Six Women“, Frauenskulpturen aus weißem Gips, die nebeneinander aufgereiht auf Holzhockern sitzen. Ihre Hände liegen oberhalb der Knie, die Augen sind geschlossen, der Kopf ist leicht gesenkt. Der Gesichtsausdruck lässt erahnen, was die Frauen bewegte. Scheinen manche gespannt in sich selbst zu ruhen, wirken andere von Kummer zerfurcht, von der Außenwelt abgeschottet, in Abwehr gegen alles, was sie zu erdulden haben. Die Frauen sind Sexarbeiterinnen aus Kolkata.

Die indische Künstlerin Bharti Kher steht hinter ihrem Werk „Six Women“.

Dass sich nicht nur das private Schicksal in den eigenen Körper einschreibt, sondern auch die Umwälzungen der Geschichte Spuren hinterlassen, thematisiert Reena Saini Kallat. In ihrer Fotoserie „Crease/Crevice/Contour“ zeichnet sie auf den Rücken einer Frau die zehn Stufen der Grenzziehung zwischen Indien und Pakistan im Zuge des ersten indisch-pakistanischen Krieges 1947. Es sind rote Namensstempel, die an Blutergüsse und Narben erinnern.

Überhaupt sind es symbolische Akte der Grenzziehung, die Kallat beschäftigen. In „Hyphenated Lives“ kreiert sie Hybridwesen aus den Nationaltieren von Grenzländern. In den Zeichnungen, die wie Illustrationen aus „Brehms Tierleben“ anmuten, kreuzt sie etwa einen Rothirsch aus Irland mit einem englischen Löwen. Hier treffen die Politisierung der Natur und die Machtpolitik enzyklopädischer Ordnungsentwürfe aufeinander.

Eine Arbeit thematisiert den Einfluss der Modernisierung auf die Natur

Spielerischer setzt sich Prajakta Potnis mit Grenzen auseinander. Der Ort, an dem sie die Objekte ihrer Fotografien inszeniert, ist – ein Kühlschrank. Da führt eine Rolltreppe im Miniaturformat ins Nirgendwo, ein Blumenkohl wirkt wie ein Atompilz, und der Stumpf eines vereisten Metallrohrs erinnert an eine Überwachungskamera. So wie die Kombination von Nahaufnahme und Weitwinkel die Bildräume verengt, lassen hier auch die häuslichen Eindringlinge die Privatsphäre dahinschmelzen.

Deutlich direkter in ihrer politischen Ausrichtung präsentiert sich Vibha Galhotra. Sie thematisiert den Einfluss der Modernisierung auf Natur und Umwelt und veranschaulicht ihn anhand der Elemente. Ein durch den verschmutzten Yamuna-Fluss gezogenes Tuch gießt sie in Kunstharz oder fotografiert Menschen in Alltagssituationen mit Sauerstoffmasken. Neu-Delhi ist berüchtigt für extreme Luftverschmutzung.

Tejal Shah schließlich, in Queer Studies geschult, porträtiert in ihrer Fotoserie „Women like us“ indische Frauen, die sich tradierten Geschlechterrollen widersetzen und befasst sich mit der Gewalt, der die Hijras, Indiens drittes Geschlecht, ausgesetzt sind. Hijras blicken in Indien auf eine jahrtausendealte Geschichte zurück; ihre Diskriminierung begann mit der britischen Kolonialzeit. Diese Geschichte, das bezeugen viele Arbeiten, ist nicht vergangen.

Kunstmuseum Wolfsburg, Hollerplatz 1, bis 7.10; Di-So 11-18 Uhr; Katalog (Verlag Hatje Cantz) 40€

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