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Kultur - 14.01.2019

Tränengas vor der Arena

Die Bewegung der Gelbwesten in Frankreich wächst weiter – auch im beschaulichen Nîmes. Ein Bericht von der Front.

Gelbwesten protestieren vor der antiken römischen Arena in Nîmes.

Das Maison Carrée ist der am besten erhaltene Tempel der gesamten römischen Welt. 26 Meter lang, 15 Meter breit und 17 Meter hoch, steht er mit weißen schlanken Säulen am Rand der Altstadt von Nîmes, die auf der anderen Seite von der Arena begrenzt wird, dem südfranzösischen Colosseum mit seiner langen Stierkampftradition.

Beide antiken Bauwerke spiegeln sich in zeitgenössischer Architektur: Vis-à-vis der Arena, die 24 000 Besucher fasst, ist im vergangenen Sommer das Musée de la Romanité eröffnet worden, wieder ein Beispiel mutig-eleganter französischer Baukunst. Die Architektin Elizabeth de Portzamparc hat eine matt spiegelnde Fassade aus fließenden Glaspaneelen geschaffen, ihre feine Struktur erinnert an römische Mosaike. Das Maison Carrée wiederum korrespondiert mit einem Bau von Norman Foster, dem gläsernen Carré d’Art aus dem Jahr 1993 mit Mediathek und Galerie. Die aktuelle Ausstellung zeigt Picasso, den politischen Künstler.

Am Samstag hatten die „gilets jaunes“, die Gelbwesten, hier einen großen Auftritt. Sie posierten auf den Stufen des Augustustempels, schwenkten die Tricolore, und man hörte die Marseillaise. Auf ihren Transparenten fordern sie das „Ende der V. Republik“ und die Abdankung von Präsident Emmanuel Macron. In dem antiken Ambiente wird es noch einmal klarer: Sie sehen in Macron eine arrogante Imperatorengestalt. Auch das römische Volk war einst nicht machtlos. Es stürzte Götter, und es rief neue aus.

Jetzt standen sich in Frankreich über 80 000 Gelbwesten und fast ebenso viele Polizisten und Polizistinnen gegenüber. Die Mobilisierung der Demonstranten nimmt zu, nicht ab. Es war der neunte gelbe Samstag, der neunte „Akt“ – so nennen es die Westen – eines schwer zu durchschauenden Spektakels der Frustration, der Selbstermächtigung, der verständlichen Prosteste gegen steuerliche Ungerechtigkeit, soziale Unterschiede, strenge Hierarchien, gegen Umweltzerstörung. Sie attackieren das System als solches. Man hört auch von üblen Angriffen auf Journalisten, ein Pöbel rechnet sie dem Staat zu. Hass auf die „Medien“ vereint extreme Rechte und Linke.

Was Macron auch tut oder lässt, es ist nicht das Richtige, es provoziert

8000 Protestierende in Paris, 6000 in Bourges, ähnliche Zahlen werden aus Bordeaux und Toulouse gemeldet. In Nîmes sind um die tausend „gilet jaunes“ zusammengekommen, die Demo ist nicht genehmigt. Das genügt, um die gepflegte Stadt mit 150 000 Einwohnern in Aufruhr zu versetzen. Und auch wieder nicht: In den offen gebliebenen Cafés der Altstadt sitzen ältere Bürger friedlich in ihren gelben Westen und ruhen aus.

Nachmittags haben sich ein paar hundert Gelbwesten mit ihren Motorrädern auf dem Boulevard versammelt. Der Verkehr kommt zum Erliegen. So hat es vor ein paar Wochen begonnen: mit einem Protest gegen die Spritpreise. Seither wächst die Geschichte. Die „gilets jaunes“ werden mehr, je mehr Macron auf sie einzugehen scheint. Was er auch tut oder lässt, es ist nicht das Richtige, es provoziert. Die „fracture sociale“, diese Spaltung, ist mindestens seit den Tagen von Präsident Jacques Chirac ein brennendes Thema. Er hat sie nicht abbauen können – und schon gar nicht Sarkozy oder Hollande.

Macron, selbst Anführer einer Bewegung („En marche“), hat die Franzosen aufgerufen, sich an der von der Regierung ausgerufenen nationalen Debatte über gesellschaftliche Reformen zu beteiligen. Das genügt vielen Gelben nicht. Sie berauschen sich an ihrem Erfolg, am Echo, das in den verhassten Medien hallt.

Wer sind sie, woher kommen sie? In Nîmes bietet sich ein gemischtes Bild. Viele Studenten haben die Weste übergezogen, aber auch Familienvatertypen sind darunter, Arbeiter und alte Linke und Anarchisten, die so aussehen, als seien sie schon 1968 dabei gewesen. Am Wochenende zuvor haben 150 Frauen den Bahnhof von Nîmes besetzt. Es fällt auf, bei aller Vorsicht, die man als zufälliger Beobachter walten lässt: Die gelben Westen wirken wie eine überwiegend weiße Bewegung. Es sind nicht die zornigen jungen Leute der Banlieue mit arabischem oder afrikanischem Familienhintergrund, noch nicht.

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