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Kultur - 16.05.2019

Sinnen und suchen

Spirituelle Energien: Joe Lovanos „Trio Tapestry“ im Pierre Boulez Saal.

Virtuos in vielen Stilen. Der große Tenorsaxofonist Joe Lovano im Boulez Saal.

Die Metapher vom Musikteppich hat einen schlechten Ruf. Entweder meint sie eine flauschige Ware, in der die einzelne Faser sich zum Wattebausch verknäult. Oder sie bezeichnet eine rein ornamentale, auf wiederkehrenden Mustern beruhende Musik, die sich selbst fortspinnt. Wo Ersteres einlullt, kann Letzteres in den intelligenteren Formen von Minimal Music und Techno die Sinne bei aller Rauschhaftigkeit im Morphing der Gestalten sogar schärfen.

Um dem klaren Bewusstsein einen weniger zweifelhaften Sinn der Metapher zu vermitteln, hat es erst den amerikanischen Komponisten und Teppichsammler Morton Feldman gebraucht. Auch seine ebenso dicht wie locker gewebte Musik beruht auf Patterns, die der Unendlichkeit zustreben. Aber nicht nur, dass sie in jedem Moment auf das einzelne Klangerlebnis setzt. Das Studium von Nomadenteppichen lehrte ihn, dass vermeintlich Symmetrisches in Wahrheit asymmetrische Strukturen enthält. Von dieser Spannung leben auch viele seiner mitunter mehrstündigen Stücke.

Der amerikanische Tenorsaxofonist Joe Lovano setzt mit „Trio Tapestry“, seiner ersten Aufnahme als Leader für das Münchner Label ECM, schon vom Titel her furchtlos auf die Metapher des Wandteppichs. Dabei kann man sich eine weniger ornamentale Musik als das, was er hier mit der Pianistin Marilyn Crispell und dem Schlagzeuger Carmen Castaldi mit grüblerischer Intensität entwickelt, kaum vorstellen. Im Pierre Boulez Saal, wo er jetzt zu hören war, weben drei gleichberechtigte Stimmen an einer zauberisch weitläufigen Musik, in der die Stille mindestens so wichtig ist wie der gespielte Ton. Auch mit der Bildhaftigkeit, die man von einem Gobelin erwarten würde, ist es nicht weit her. Die Linien, mit denen sich die drei vorantasten, sind einerseits von großer Entschiedenheit: Insbesondere der virtuose Alleskönner Lovano, der von kraftvollem Bebop bis zum Free Jazz schon sämtliche Stile bedient hat, ohne jemals seinen eigenen Ton zu riskieren, verfügt über eine unanfechtbare Autorität. Andererseits verfließen sie in einem Abstraktionsgrad, der einen zwingt, sich auf das Klangmysterium als Ganzes einzulassen.

Unerwartetete Konstellationen

Castaldi trommelt mit einer Zurückhaltung, die dieser spirituell anmutenden Musik nicht zuletzt durch Stücktitel wie „Mystic“ einen pulsierenden Atem verleiht. Crispell kostet dissonante Großintervalle aus, als wären es eingängige Melodien. Und Lovano wandert durch einen kleinen Wald von chinesischen Gongs, die er mit seiner Rechten anschlägt, während er mit der Linken das Saxofon bedient. Und manchmal wechselt er zum ungarischen Tárogató, einem klarinettenähnlichen Rohrblattinstrument. Lovano hat in Bezug auf die Kompositionen von einem Zwölftonverfahren gesprochen, damit aber nicht die reine Lehre gemeint, derzufolge kein Ton der Oktave von Neuem erklingt, bevor nicht alle anderen zu ihrem Recht gekommen sind. Er ist eher auf die Vermeidung jeder Formel aus – und auf unerwartbare Kombinationen und Konstellationen. Zugleich ist sie in der überwiegenden Abfolge von Thema-Improvisation-Thema durchaus konventionell.

Der Gestus dieser Musik ist nicht neu, doch unvermindert lebendig. Seine Wurzeln liegen im sinnenden Suchen, mit dem der Pianist Paul Bley Mitte der sechziger Jahre einen unverwechselbaren Sprödigkeitsstil prägte. Und sie finden sich in einem psalmodierenden Chanting, das John Coltrane über den pianistischen Wogen seiner Frau Alice Coltrane zu jener Zeit in hitzige Höhen führte.

Die Temperaturen dieser „Trio Tapestry“ sind von gelegentlichen Ausbrüchen abgesehen gemäßigter. Auch gegenüber Lovanos eigenen Trioerfahrungen mit dem Gitarristen Bill Frisell und dem vor acht Jahren verstorbenen Drummer Paul Motian, die live gewaltig hinlangen konnten, sind sie abgekühlt, allerdings nicht auf Kosten der inneren Energie. Die drei haben ekstatische Momente gar nicht nötig.

Hommage an Pierre Boulez

Castaldi setzt auf den Spuren dieses eigenwilligen Giganten, dem auch die klassisch geschulte Marilyn Crispell über Jahre verbunden war, perkussive Akzente. Und es entsteht eine Kammermusik aus dem Geist und mit dem Vokabular des Jazz, die sich um Gattungszugehörigkeiten nicht mehr schert. Es hätte auch Pierre Boulez gefreut, dass Joe Lovano eine erst am Vorabend entstandene Komposition unter seinem Namen aufführte.

Der größte Teil des Publikums war von dem seltenen Gast begeistert. Ein kleinerer, der sich offenbar nicht kundig gemacht hatte, dass ihn kein Jazz zum Fingerschnippen erwarten würde, wurde nach der Hälfte unruhig. Nach und nach tröpfelte erst dieses, dann jenes Pärchen aus dem Saal, als wäre diese sanft insistierende Musik eine Zumutung.

Dem Trio kann das nicht entgangen sein – auch wenn die große Demütigung ausblieb, wie sie dem Vijay Iyer Sextet vergangenen November in der Hamburger Elbphilharmonie widerfuhr. Dort verließen ganze Hundertschaften ein Konzert des weltberühmten Pianisten. Sie hatten ihre Tickets offenbar im Zusammenhang mit Busreisen ergattert, zu deren Leistung ohne Ansehen des Programms ein Abend in der Nobelhalle gehört.

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