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Kultur - 08.01.2019

Schicksal eines Schicksallosen

Zwischen Berlin und Budapest ist ein stiller Kampf um das Erbe des ungarischen Literaturnobelpreisträgers Imre Kertész entbrannt. Ein Besuch an der Donau.

Der ungarische Literaturnobelpreisgewinner Imre Kertész, der im März 2016 starb.

Unter dem matschgrauen Budapester Februarhimmel wirkt die Villa Eisele in der Benczúr-Straße 46, wenige Schritte vom Heldenplatz entfernt, doppelt ramponiert. Die Art-Nouveau-Pracht, die ihr das Architektenpaar Guido Hoepfner und Géza Györgyi 1909 schenkte, ist dahin. Tiefe Schrunden laufen über die Fassade, und im wintertrüben Inneren raubt das Dunkelbraun der Holzvertäfelungen noch dem kleinsten Schnörkel seinen Schwung. Zuletzt haben die Insassen eines Altersheims die Grandeur der 1070 Quadratmeter heruntergewohnt. Nach Jahren des Leerstands soll das Geisterhaus nun aber wieder eine Zukunft haben. Die Gemeinnützige Stiftung für die Erforschung der Geschichte und der Gesellschaft Mittel- und Osteuropas hat sie im vergangenen Jahr für umgerechnet zwei Millionen Euro erworben und will darin das Imre-Kertész-Institut eröffnen.

Gábor Tallai, Programmdirektor des Terror Háza Múzeum in der benachbarten Andrássy út, führt voller Stolz durch die Villa. In zwei bis drei Jahren soll hier der Nachlass des im März 2016 mit 86 Jahren verstorbenen, ersten und einzigen ungarischen Literaturnobelpreisträgers in einer auf 30 Bände angelegten Ausgabe aufgearbeitet werden. Gastwissenschaftler, Stipendiaten und Veranstaltungsbesucher sollen es mit Leben füllen. Das Haus des Terrors, eine multimedial orchestrierte Gedenkstätte für die Opfer der faschistischen Pfeilkreuzler und diejenigen der kommunistischen Niederschlagung des Ungarn-Aufstands von 1956, wird zwar das Renommierprojekt der regierungsnahen Stiftung bleiben. Doch das Kertész- Institut stopft die kulturelle Lücke neben dem von ihr gleichfalls betriebenen Institut für habsburgische Geschichte, den Instituten des 20. und des 21. Jahrhunderts und demjenigen zur Erforschung des Kommunismus.

Widerstand gegen zwei Diktaturen

Imre Kertész, der erst die Deportation nach Auschwitz, Buchenwald und von dort in die Außenlager Zeitz und Wille überlebte und, zurück in Budapest, die bleierne Zeit des Erzstalinisten Mátyás Rákosi und dessen Nachfolger János Kádár erlebte, ist für die geschichtspolitischen Ziele der Stiftung eine ideale Symbolfigur. Als Jude hat er überdies den Vorzug, gegen den bis in die höchsten Kreise grassierenden Antisemitismus ins Feld geführt werden zu können.

Wie József Kardinal Mindszenty, der seinen deutschen Nachnamen Pehm aus Protest gegen die Pfeilkreuzler ablegte und 1949 in einem kommunistischen Schauprozess wegen Hochverrats zu lebenslanger Haft verurteilt wurde, bevor er nach 1956 Zuflucht in der Budapester US-Botschaft fand, steht Kertész für den Widerstand gegen beide Totalitarismen. Die Regierung von Ministerpräsident Viktor Orbán legitimiert ihre nationalpopulistische Linie nicht zuletzt aus der Erfahrung zweier Diktaturen. Damit verbindet sich ein auch in Polen verbreiteter Opferdiskurs, der davon, dass es auch eine Vielzahl williger Kollaborateure gegeben haben muss, nichts wissen will.

In Berlin archiviert, in Budapest für eine kritische Ausgabe vorgesehen. Die erste Seite vom „Roman eines Schicksallosen“.

Im Haus des Terrors wird dieser Diskurs vor allem im Hinblick auf die Sowjetherrschaft mit einer Überwältigungsästhetik inszeniert, die dem Werk von Imre Kertész fremd ist. Was er 1975 in seinem „Roman eines Schicksallosen“ aus der Perspektive eines 15-Jährigen fiktional zu fassen versuchte, war gerade die physische Alltäglichkeit, mit der sich undurchschaubare Regeln zum Ganzen eines Konzentrationslagers zusammensetzen. Und obwohl der Holocaust für ihn ein Zivilisationsbruch war, in dem sich die Rationalität des 20. Jahrhunderts vollendet, blieb er für ihn im Geschichtlichen angesiedelt. Die Fratze des Bösen, die manche darin sehen wollten, erschien ihm als ebenso sentimentaler Irrtum wie die Rührseligkeit von Steven Spielbergs Filmdrama „Schindlers Liste“. Kertész wollte sich mit aller intellektuellen Schärfe dem „Holocaust als Kultur“ stellen, wie er 1992 einen programmatischen Essay nannte.

Diese kleine Unverträglichkeit ist allerdings nichts gegen die große, die gerade zwischen Budapest und Berlin ausgetragen wird. Seit Magda Kertész am 30. August 2016 auf ihrem Sterbebett eine zweiseitige Schenkungsurkunde unterzeichnete, die der Stiftung sämtliche Nutzungsrechte am geistigen Nachlass ihres Mannes überlässt, fühlt sich die Akademie der Künste düpiert. 2012 erwarb sie für eine Summe im mittleren sechsstelligen Bereich den Vorlass des Schriftstellers. Mit dem Ankauf, erklärt Werner Heegewaldt, der Direktor des Archivs, sei man dem ausdrücklichen Wunsch von Kertész nachgekommen, seinen Manuskripten an dem Ort eine Obhut zu geben, an dem er die glücklichste Zeit seines Lebens verbracht habe.

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  • "Meine sämtlichen Manuskripte gehen in die Emigration"
  • Antieuropäisches Ressentiment und EU-Mitgliedschaft

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