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Kultur - 08.06.2019

Reise ins Bauerwartungsland

Nach dem Mauerfall: Die Berlinische Galerie zeigt André Kirchners fotografische Erkundung des Stadtrands aus den frühen neunziger Jahren.

Endlich Leere. Dreilinden, am einstigen Grenzkontrollpunkt Drewitz.

Die Bilder erzählen von einem Zwischenreich. Und sind für 19 Tage selbst darin gestrandet. Die Eröffnung von André Kirchners Fotozyklus der nach dem Mauerfall noch ungestaltet daliegenden Peripherie „Stadtrand Berlin 1993/94“, den die Berlinische Galerie zum 30. Jahrestag der Wende erstmals zeigt, lag wegen der temporären Schließung des Hauses drei Wochen lang auf Eis.

Die durch eine Untersuchung der Dachkonstruktion ausgelöste Schließung der Ausstellungsräume hat das Haus tausend Besucher täglich gekostet und damit Einbußen von 190 000 Euro beschert, wie Direktor Thomas Köhler sagt. Verfügt wurde die Vorsichtsmaßnahme vom Vermieter, der Berliner Immobilienmanagement GmbH (BIM). Auf Schadensersatz verklagen wolle die eine Landeseinrichtung die andere nun aber nicht, stellt Köhler fest. Wünschenswert sei jedoch eine Überprüfung sämtlicher Anlagen seines Hauses, um den tatsächlichen Sanierungsbedarf zu ermitteln. Weil eine Verlängerung der Laufzeiten der Lotte Laserstein- oder der nachträglich eröffneten André Kirchner-Schau nicht möglich ist, hat er zu einem anderen Kompensationsmittel gegriffen. „Wir haben sieben Tage die Woche geöffnet, auch am sonst geschlossenen Dienstag.“ Eine Info, die bis zum 12. August gilt und sich selbst bis zum Fotografen André Kirchner noch nicht herumgesprochen hatte.

Der 1958 in Erlangen geborene und seit 1981 in Berlin ansässige Kirchner gehört zu den stilbildenden Stadtfotografen. Er ist auf Architektur und Infrastruktur, auf Häuser, Straßen, Bahnbögen, Fensterhöhlen, aber auch auf Rückbauten, Abrisse und Brachen spezialisiert. Seine betont nüchternen, der Leere huldigenden Bildkompositionen weisen urbane Muster nach. Und sie zeigen seit mehr als 30 Jahren die Umbrüche West- und Ost-Berlins.

In dem von der Berlinischen Galerie sofort nach der Entstehung 1993 und 1994 angekauftem, aber noch nie ausgestelltem Konvolut „Stadtrand Berlin“ kommt beides zusammen – Ost wie West. Gemeinsam ist den in kühlem Schwarzweiß eingefangenen Stadträndern der dröhnende Stillstand, der entsteht, wenn eine vom Umland abgetrennte Stadthälfte künstlich am Leben erhalten wird und die andere vom Niedergang der Planwirtschaft gezeichnet ist. Die spröde märkische Landschaft tut ihr Übriges.

In der Tradition der „New Topographics“

Flach, desolat, unbehaust – Kirchners Stillleben von Kornfeldern, hinter denen Neubausiedlungen aufragen, von aufgelassenen Stadtgütern, die zwischenzeitlich LPGs waren, von Strommasten, Rieselfeldern, von gepflasterten Landstraßen, auf denen glatt Theodor Fontane vorbeischreiten könnte, von Industrieruinen und – selten – auch von Grenzanlagenresten sind eben keine klassische Stadtfotografie und schon gar keine Mauerstreifen-Dokumentation.

Kirchner bewegt sich diesmal in der Tradition der amerikanischen „New Topographics“, von Fotografen wie Robert Adams und Lewis Baltz, die das Eindringen der Zivilisation in die Landschaft thematisieren. Als direkte Inspiration diente ihm der in der Berlinischen Galerie auch in einer Vitrine ausgestellte Bildband „Traurige Landschaft“ von Josef Sudek. Der Tscheche hat in schonungslosen, zugleich poetischen Panoramen die Wüsteneien böhmischer Braunkohlereviere abgelichtet. Anders als er hat sich Kirchner jedoch für ein gemäßigtes Panorama entschieden. „Damit man es noch mit einem Blick erfassen kann.“ Dem Suchbild-Charakter, bei dem sich winzige stadttopografische Details erst durch konzentriertes Hinschauen entschlüsseln, tut das keinen Abbruch.

Ein verlassener Gasthof an der Bundesstraße 5 in Dallgow.

Kirchners Fotos gleichen oft Land-Art-Installationen, in denen sich Erde und Himmel, nahe Bäume und ferne Funkmasten oder Kirchtürme, Schneeflächen und Plattenbauten in einer Zone vereinen, die nicht mehr Landschaft ist, aber noch nicht Siedlung. Eine menschengemachte Welt, ein auf Verwertung wartendes Bauerwartungsland. Gespickt mit Geschichtsspuren wie der Glienicker Brücke, dem Munitionsbunker Falkensee, dem Stasi-Ausbildungszentrum Gosen oder der an die napoleonischen Kriege erinnernde Bülow-Pyramide bei Großbeeren, die in winterlicher Landschaft als Spitze am Horizont steht.

Wie im luftleeren Raum

Die Blickrichtung geht vom Umland in die Stadt, die häufig nur in der Ferne zu erahnen ist. „Ich wollte die Position einnehmen, die seit dem Mauerbau niemand mehr einnehmen konnte“, sagt der Fotograf und erzählt, dass er auf seinen Expeditionen nach Waßmannsdorf, Gosen, Rüdersdorf, Dallgow, Staaken oder Babelsberg so gut wie keinen Menschen antraf. „Ich fühlte mich wie im luftleeren Raum.“ Genau das transportieren seine wie ein 360-Grad-Fries gehängten Kompositionen, in die als Zeichen der Zeit auch schon frisch an die Autobahn gepflanzte Möbelhauswürfel wachsen.

In einer Vitrine ist der vergilbte Tagesspiegel-Artikel vom 23. März 1993 zu sehen, der Kirchner den Anstoß gab. Er berichtet vom geplanten Abriss der Abfertigungshallen am ehemaligen DDR-Grenzkontrollpunkt Drewitz. Die betonierten Flächen und stählernen Dachstreben, auf und unter denen einst die Transitreisenden in Abfertigungsschlangen standen, markieren den grafischen Startpunkt der Reise. Ein Jahr lang klappert Kirchner die Stadtgrenze von Groß-Berlin ab. 150 Bilder fertigt er auf den 234 Kilometern mit der Panoramakamera an und wählt 60 davon für den Zyklus aus. Keins verströmt mehr archaischen Zauber als die Schlote der Rüdersdorfer Kalkwerke. Steine sind langlebiger als Staaten.

Berlinische Galerie, bis 29. 7., tgl. 10-18 Uhr, Katalogbuch (Hartmann Books): im Museum 24,80 €

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