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Kultur - 13.07.2019

Rebellin gegen die aristokratische Herkunft

Die österreichische Schriftstellerin Hermynia Zur Mühlen begab sich als Diplomatentochter in den Klassenkampf. Nun wird sie neu entdeckt.

Zwischen Kommunismus und Katholizismus. Hermynia Zur Mühlen.

Ihr 1929 erschienenes Lebensbuch „Ende und Anfang“ beginnt mit dem ernüchternden Satz: „Die Welt, in der ich aufwuchs, ist tot; wenn auch viele ihrer einstigen Bewohner noch leben.“ Hermynia Zur Mühlen spricht von der österreichischen k. u. k. Monarchie. Man konnte sie schmähen wie Karl Kraus, melancholisch ihren Niedergang begleiten wie Joseph Roth oder sie entschlossen hinter sich lassen wie dieser Spross des europäischen Hochadels, der schon zwölfjährig einen Verein mit dem einzigen Ziel gründete, den Adel abzuschaffen: „Ich brach mit meiner alten Welt“, heißt es am Ende dieser Erinnerungen, „und wagte den Sprung in die neue. Ich lernte arbeiten, auf eigenen Füßen stehen.“

Diese doppelte Emanzipation von Herkunft und Geschlechterrolle ist nun wieder nachzulesen in einer von Ulrich Weinzierl verantworteten vierbändigen Werkausgabe. Sie erscheint im Rahmen einer Reihe mit vergessenen Autorinnen, darunter Irmgard Keun und Annette Kolb, die von der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung und der Wüstenrot-Stiftung veranstaltet wird (Hermynia Zur Mühlen: Werke in vier Bänden. Bibliothek Wüstenrot Stiftung. Zsolnay Verlag, Wien 2019. 2432 Seiten, 48 €).

Sie ist schon deshalb ungewöhnlich, weil die 1883 geborene Autorin das hochwohlgeborene Diplomatenkind, das sie war, reizend selbstironisch einfängt. Egal ob die jugendliche Hermynia mit ihrem Vater, dem österreichischen Gesandten Victor Graf Folliot-Crenneville, durch Europa, den Maghreb und den Nahen Osten tingelt und sich dabei viel mehr herausnimmt als ihre Altersgenossinnen oder ob ihr als junger Frau eines baltischen Junkers, des erzkonservativen Landbarons Victor von Zur Mühlen, in der russischen Ostseeprovinz Estland schnell das Lächeln vergeht: Fixpunkt bleibt Gmunden am Traunsee, wo sie bei der liberalen Großmutter viel Zeit verbringt. „Arm“, so lernt man, war in den Augen der Hochadligen das Bürgertum.

Im Strudel russischer Exilanten

Es sind ihr Widerspruchsgeist, die Zeitläufte und insbesondere die schwache Konstitution, die das sechsjährige Estland-Drama der versagenden „Zuchtstute“, so ihr Ehemann, 1913 abrupt beenden. In Davos gerät die lungenkränkelnde Patientin in den Strudel russischer Exilanten, die auf den Ausbruch der Revolution warten. Unter ihnen ist auch der ungarisch-jüdische Übersetzer Stefan Klein, mit dem sie sich für den Rest ihres Lebens zusammentut.

Den politischen Umbruch begrüßt Zur Mühlen, die sich nun ihres Titels entledigt hat, mit Jubel: „Revolution in Russland!“ Wild entschlossen, die „soziale Frage“ zu lösen, die sie schon als Jugendliche beschäftigte, begibt sie sich nach dem Krieg nach Frankfurt und beginnt für die kommunistische Presse zu schreiben. „Fort mit dem Luxus und dem Behagen und hinein in das proletarische Leben!“, beschreibt sie 1930 rückblickend ihr Lebensgefühl angesichts des verwanzten Hotels, in dem sie absteigt.

Vielleicht ist es ein verstecktes pädagogisches Geschick der aufstrebenden Autorin – im Kloster Gmunden hat sie den Beruf der Volksschullehrerin erlernt, den auszuüben ihr die Eltern verbieten –, dass sie zunächst proletarische Märchen schreibt und damit ein neues Genre in die literarische Welt setzt. In viele Sprachen übersetzt finden sie große Verbreitung. 1920 erscheint im Malik-Verlag der erste eigenständige Band „Was Peterchens Freunde erzählen“: Der kranke Peter liegt krank im Bett, und um ihm die Langeweile zu vertreiben, erzählt ihm die Wasserflasche vom Arbeitsalltag der Glasbläser, oder die Streichhölzer berichten von ihrem früheren Leben im Wald.

Sie entdeckt Upton Sinclair für die Deutschen

Für Hermynia Zur Mühlen beginnt eine auf Klassenkampf und Revolution hin orientierte prekäre Lebensphase. Sie schreibt wie verrückt, nicht nur Märchen, sondern auch Erzählungen, Feuilletons, erste Romane wie „Das Licht“. Sie übersetzt aus mehreren Sprachen, entdeckt für das deutsche Publikum Upton Sinclair und verfasst unter dem Pseudonym Lawrence H. Desberry erfolgreich Kriminalromane. Als Zeilenmagd ähnelt sie dem ausgebeuteten Dienstmädchen Lina aus ihrer gleichnamigen Erzählung.

Im Laufe der 1920er Jahre distanziert sich die „rote Gräfin“, wie sie genannt wird, jedoch allmählich von ihrer kommunistischen Umgebung, findet zu ihren katholischen Wurzeln zurück und verfasst für sozialdemokratische und linksliberale Gazetten Novellen unter dem programmatischen Titel „Der rote Heiland“ oder Ehegeschichten und Gesellschaftsskizzen – „kleine, mit leichter Hand verfertigte Meisterwerke“, wie Karl-Markus Gauß im Vorwort zur Neuauflage zu „Fahrt ins Licht“ (1999) schreibt, „in denen auf wenigen Seiten eine ganze Welt entworfen wird“. Diese leichte Hand ist es, die ihre Leserschaft so betört.

Das andere ist die Hellsichtigkeit, mit der diese rebellische „Aristokratin, im innigsten, im menschlichen Sinne des Wortes“, wie sich Sándor Márai an die Weggenossin erinnert, die politischen Veränderungen wahrnimmt. Ihre Flucht aus Deutschland mit dem Lebensgefährten und zwei Hunden schildert Zur Mühlen in ihrem autobiografischen Roman „Reise durch ein Leben“. Schon wieder in Österreich, verwahrt sie sich in einem Brief an den Engelhorn-Verlag gegen die Zumutung, sich von der Emigrantenzeitschrift „Neue deutsche Blätter“ zu distanzieren. Sie würde Landesverrat begehen, schreibt sie, wenn sie als Österreicherin mit ihren „bescheidenen Kräften das Dritte Reich nicht bekämpfen würde“.

Demagogisch anfälliges Kleinbürgertum

Ein Beleg ihrer „bescheidenen Kräfte“ ist der in nur drei Wochen aus Wut geschriebene Roman „Unsere Töchter, die Nazinen“, der aus der Perspektive einer sozialdemokratischen Arbeiterfrau, einer Gräfin und einer Arztfrau vom Abdriften ihrer Töchter in den Nationalsozialismus erzählt. Die auf die drei weiblichen Erzählfiguren konzentrierte Verratsgeschichte liest sich, bei allem Pathos, wie ein Soziogramm der frühen 30er Jahre. Insbesondere die Litanei der aufstiegsfixierten, brutal rücksichtslosen Frau Dr. Feldhüter, die in der Kleinstadt endlich etwas zu sagen haben will und dabei nur sich selbst betrügt, spiegelt, was die Forschung später als die Anfälligkeit des (Klein-)Bürgertums für die nazistische Demagogie ausmachen wird.

Der Roman kann erst mit erheblicher Zeitverzögerung im katholischen Gsur-Verlag in Wien erscheinen. Er provoziert die Intervention des deutschen Gesandten Franz von Papen und wird von den Behörden schließlich mit Vertriebsverbot belegt. Der geplanten Romantrilogie über die Grafenfamilie Herdegen kommt der Einmarsch der Deutschen in Österreich zuvor, die eine neuerliche Flucht des Paares Zur Mühlen/Klein (mit Hunden) in die Slowakei notwendig macht.

Auftakt zu einem neuen Genre. 1921 debütiert Hermynia Zur Mühlen mit den proletarischen Märchen „Was Peterchens Freunde erzählen“.

Nach „Ewiges Schattenspiel“ zieht die Autorin mit „Als der Fremde kam“ den dritten Teil der Trilogie, der die Zerschlagung der Tschechoslowakei und die Reaktionen der einheimischen Bevölkerung in den Blick nimmt, vor. Es handle sich eher um eine Reportage als einen Roman, so Zur Mühlen, denn sie habe alles, was darin berichtet wird, selbst erlebt oder erzählt bekommen. Doch „mein Talent reicht nicht aus, um das Grauen fühlbar zu machen oder um die unheimliche Rohheit und Gemeinheit zu schildern, die der Faschismus in den Menschen entfesselt“.

1939 müssen Hermynia Zur Mühlen und Stefan Klein auch Bratislava verlassen, ihre Endstation wird London. 1951 stirbt die schwerkranke Autorin, vergessen und verarmt, im südenglischen Radlett, wo heute nichts mehr an sie erinnert. Dass die von Ulrich Weinzierl faktenreich kommentierte, fast 2500 Seiten umfassende und dabei kostengünstige Werkausgabe nicht einmal die Hälfte dessen zusammenfasst, was Zur Mühlen geschrieben hat, lässt den Druck ahnen, unter dem diese Autorin stand, seitdem sie ihr aristokratisches Glashaus verlassen hatte. Dass sie dabei unbeschwert literarische Bestände plünderte, überkommene Genres mobilisierte und so, wie Felicitas Hoppe in ihrem einfühlsam-kritischen Eingangsessay schreibt, „furchtlos in jeder Hinsicht, folglich auch in Bezug auf Klischees“ war, die sie „unbekümmert wie unverfroren als Brennglas über die realen Verhältnisse legt“, ist Teil dieser rastlosen Produktionsbedingungen, die den heutigen prekär Schreibenden nicht unbekannt sein dürften.

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