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Kultur - 12.06.2019

Raub, Exil und Rettung

Diskussion und Lesung in der Akademie der Künste: Was die Bibliotheken von Heinrich Mann und Co über das Schicksal ihrer Besitzer erzählen.

Schicksalstag. Am 21. Februar 1933 notiert Heinrich Mann in seinen Kalender lakonisch „abgereist“.

Der französische Botschafter hatte ihn gewarnt: Am 21. Februar 1933 floh Heinrich Mann nach Straßburg. „Abgereist“, notierte er lakonisch im Kalender. Nur einen kleinen Koffer nahm er mit: Der Abschied durfte nicht nach Emigration aussehen. Lange blieb die Flucht nicht verborgen. NS-Behörden und SA verschafften sich Zugang zur Berliner Wohnung in der Fasanenstraße 61. „Da sie mich nicht hatten, verkündeten sie mit Lautsprechern, sie hätten mich“, schrieb Mann an Alfred Kantorowicz. Kontensperrungen und Beschlagnahmungen folgten. Wo blieben die Bücher, die Heinrich Mann nicht über die Grenze schaffen konnte?

Die Plünderung und die Enteignung von Bibliotheken verfolgter Intellektueller in der frühen NS-Zeit sind bis heute nicht hinlänglich untersucht. Das betrifft die Einziehung von Vermögen durch die Geheime Staatspolizei und durch das Preußische Finanzministerium sowie die zuständigen Berliner Finanzämter, ebenso die Verwertung durch lokale Speditionen und Auktionshäuser. Auch zu den Verlusten während der Versendung, etwa nach Schweden, Großbritannien oder in die Schweiz, liegen bislang nur Einzeluntersuchungen vor. Vor Jahren rekonstruierte der Antiquar Herbert Blank die Bibliothek von Walter Benjamin, indem er die Titel, die Benjamin besessen haben muss, als Apparat zusammenführte. Die tatsächliche Büchersammlung, über die Benjamin immer wieder geschrieben hatte, blieb hingegen zu entscheidenden Teilen verschwunden. Das gilt auch für die Handapparate des Kunstkritikers Carl Einstein, der wie Benjamin 1940 an der französisch-spanischen Grenze Selbstmord beging.

In einem Pariser Keller überstand die Bibliothek von Anna Seghers den Krieg, während die Autorin in Mexiko an der Gründung von „El libro libre“ beteiligt war. Seit dem neunten Jahrestag der Bücherverbrennung, seit Mai 1942, brachte der Verlag Romane und Essays gegen den Nazi-Terror heraus, darunter „Lidice“ von Heinrich Mann. Das Impressum erfüllte seine Aufgabe: Es gibt bis heute den Ort an, an dem Druck und Vertrieb möglich gewesen waren. Bücher aus der Edition „El libro libre“ finden sich heute in der Nachlassbibliothek von Anna Seghers: Titel von Lion Feuchtwanger, Egon Erwin Kisch und Theodor Balk stehen da neben mexikanischer Produktion, Ausgaben von García Lorcas „Romancero gitano“, spanischen Übersetzungen von Nikolai Gogols „Toten Seelen“ und Elisabeth Barrett Brownings Sonetten.

Welchen Erkenntniswert haben die Büchersammlungen heute?

Was man nicht neu drucken konnte, musste antiquarisch besorgt werden: „Meiner Bücher beraubt und allmählich wieder imstande zu lesen, baue ich mir langsam wieder eine kleine Bibliothek auf“, schrieb Arnold Zweig 1938 in Haifa. Welchen Erkenntniswert haben die Büchersammlungen, die in der Nachkriegszeit aus den Exilorten in die Archive gelangten, heute? Sie erzählen von mühsamen Nachkäufen, überraschenden Lernprozessen in neuen kulturellen und sprachlichen Kontexten und vom Festhalten an einem Bildungskanon, über den die Geschichte hinwegging.

Die Sammlungen zeigen freilich auch die Risse und Lücken. Aus der Bayerischen Staatsbibliothek wurden in den vergangenen Jahren immer wieder Exemplare aus dem enteigneten Teil von Thomas Manns Bibliothek nach Zürich restituiert. Auch Heinrich Mann besaß 1933 noch eine Wohnung in München: Dort, in der Leopoldstraße 59, lebten seine erste Frau und seine Tochter. „Ihr müsst mit größter Eile die tschechoslowakische Staatsangehörigkeit erlangen“, schrieb Heinrich Mann aus Nizza.

Das literarische Material und die Bücher aus der Münchner Wohnung konnten tatsächlich nach Prag gerettet werden. Wo aber blieben die Bücher aus Heinrich Manns Berliner Wohnung? In der Berliner Staatsbibliothek finden sich Exemplare aus seinem Vorbesitz. Sie stammen freilich aus der 1957 durch die DDR-Behörden enteigneten Bibliothek von Alfred Kantorowicz, der in die Bundesrepublik ausgereist war – aus Sorge vor Maßnahmen gegen die kritische Emigrantengeneration.

An Stelle einer Heilungsfantasie muss die Rekonstruktion rücken

Auch in der BRD erweist sich die Lage als komplexer als vermutet, wie der Fall des jüdischen Sammlers Ludwig Töpfer zeigt: Als dessen lange eingelagerte Bibliothek 1967 zwischen drei Forschungsstandorten aufgeteilt wurde, gutachtete der Wolfenbütteler Direktor Erhart Kästner, der schon für die NS-Verwaltung gearbeitet hatte. Die Aufarbeitung der juristischen Details macht der Provenienzforschung zu schaffen. Rasch meldet sich der Digitalisierungsreflex: In der Tat wurde unlängst das Zürcher Projekt zu den Lesespuren in Thomas Manns Bibliothek erfolgreich abgeschlossen.

Die Folgen des Unrechts, die Zersplitterung und Zerstreuung können in der digitalen Welt freilich nicht aufgehoben werden: An die Stelle einer Heilungsfantasie muss die Rekonstruktion rücken. So zeigt ein internationales Vorhaben ab 2021 erstmals Heinrich Manns Werkhandschriften und Notizbücher im Netz, indem es die Überlieferungswege bis an die heutigen Standorte nachzeichnet: Berlin, Prag, Los Angeles, Marbach, Lübeck – ein Modell zweifellos auch für die Kerne historisch bedeutsamer, auseinandergerissener Bibliotheken, geraubter und erhaltener, enteigneter und restituierter Sammlungen.

Am Donnerstag, den 13. Juni um 19 Uhr findet unter dem Titel „Close Reading“ in der Akademie der Künste am Pariser Platz eine „ Expedition in die Nachlassbibliotheken“ statt. Mit Marcel Lepper, dem Leiter des AdK-Literaturarchivs, diskutieren Friedrich Forssman, Kerstin Hensel und Thomas Lehr. Es lesen die Schauspielerinnen Maren Eggert und Angela Winkler.

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