Home Kultur Ode an die Freunde
Kultur - 21.01.2019

Ode an die Freunde

Heute vor fünf Jahren starb Claudio Abbado. Die Berliner Philharmoniker gedenken ihres ehemaligen Chefdirigenten mit einer Ausstellung.

Claudio Abbado 2005 in Luzern

Nur ein paar Takte – und schon ist sie wieder lebendig, die Klangwelt des Claudio Abbado. Wer nach längerer Abstinenz eine Aufnahme des italienischen Dirigenten anhört, ist erst überrascht, dann überwältigt und schließlich gerührt. Die Kunst der Achtsamkeit hat der 1933 geborene Abbado von klein auf gelernt, denn in dem Mailänder Intellektuellenhaushalt, in dem er aufwuchs, gehörte das Kammermusikmachen ganz selbstverständlich zum Alltag. Das genaue Hinhören, das Nachvollziehen dessen, was die anderen spielen, machte er zum Credo seiner Interpretationen. Die Prinzipien der Kammermusik-Kommunikation auf die Arbeit mit großen Orchestern zu übertragen, wurde ihm zur Lebensaufgabe.

Im Probenprozess konnte er seine Berliner Philharmoniker damit zur Verzweiflung treiben. Weil er ganze Passagen immer wieder durchspielen ließ, ohne sich zu erklären, ohne zu benennen, was er anders, besser haben wollte. Viele haben ihm das als Schwäche ausgelegt. Dabei war es nur seine Art, die Mitspieler zum eigenen Denken zu zwingen – und damit aus Untergebenen Partner zu machen. Da dachte er ganz anders als sein Vorgänger Herbert von Karajan, dessen Perfektionsdrang Unterwerfung erforderte.

Unerreicht sind seine Mahler-Sinfonien

Claudio Abbado strebte nach Verfeinerung des Wahrnehmungsvermögens durch Verinnerlichung. Bei den Musikerinnen und Musikern, denen er vorstand, ebenso wie beim Publikum, das ihm zuhörte. Die lange, konzentrierte, gemeinsame Stille nach dem letzten Ton war ihm der kostbarste Moment einer Aufführung. Viel wichtiger als der tosende Applaus, der danach losbrach.

All das steigt wieder aus der Erinnerung auf, wenn man den mit 60 CDs prall gefüllten Würfel aufklappt, den die Deutsche Grammophon anlässlich der fünften Wiederkehr von Abbados Tod am heutigen 20. Januar herausgebracht hat. Alle Aufnahmen des Dirigenten mit den Berliner Philharmonikern, die für das Label entstanden, sind darin versammelt. Fast wahllos kann man hinein greifen, um die Atmosphäre von damals heraufzubeschwören. Brahms und Beethoven haben bei Abbado nichts von teutonischer Schwere, unerreicht sind seine Mahler-Sinfonien, kein Dirigent seiner Generation bewegte sich so feinfühlig durch die zerklüfteten Seelenlandschaften dieses Komponisten.

Verblüffend breit ist zudem das stilistische Spektrum: Es reicht von der legendären Einspielung des Ravel-Klavierkonzerts mit Martha Argerich aus dem Jahr 1967 über Verdis „Falstaff“, Stockhausens „Gruppen“, eine Wagner-Gala, bei der Cheryl Studer in höchster Stimmpracht zu erleben ist, bis hin zur irrwitzigsten Interpretation von Mussorgskys Tonpoem „Eine Nacht auf dem kahlen Berge“, die je entstanden ist: Geschwindigkeit ist hier sehr wohl eine Hexerei, virtuos-wirbelnder lässt sich diese Musik nicht denken.

Abbado 1963

Der Italiener hat doppeltes Glück, als ihn die Philharmoniker im Oktober 1989 ziemlich überraschend zu Karajans Nachfolger wählen. Zum einen fällt kurz darauf die Mauer und er kann sein Amt in einer Stadt antreten, die nach bleiernen Jahrzehnten geradezu trunken ist vor Aufbruchstimmung. Und zum anderen hat innerhalb des Orchesters gerade ein massiver Verjüngungsprozess begonnen. Gleich dutzendweise gehen Musiker in Rente und wurden durch junge, erfahrungshungrige Kräfte ersetzt.

Als Abbado sich mit den Worten vorstellt „Ich bin Claudio, für alle. Kein Titel“, wirkt das in Karajans Kompagnie wie eine Kulturevolution. Der Oboist Albrecht Mayer, seit August 1992 Mitglied im Orchester, fühlt sich bei Abbado sofort verstanden und aufgehoben. Als er allerdings in einer Probe tatsächlich die Stimme erhebt, um „Claudio“ eine interpretatorische Detailfrage zu stellen, erstarren die älteren Kollegen rund um ihn, die gefühlte Temperatur im Saal sinkt um mehrere Grad.

Auch von Abbados Seite ist die Sache mit dem Vornamen nicht ganz so leger gemeint, wie der junge Oboist das verstanden hat. „Claudio“ steht symbolisch dafür, dass sich in der musikalischen Arbeit alle auf Augenhöhe begegnen sollen. Geht es aber um Machtfragen hinter den Kulissen, besteht Abbado sehr wohl auf seiner Richtlinienkompetenz. Aber er sorgt auch für jede Menge gedanklichen Input, beispielsweise durch die „Berliner Zyklen“: Jede Saison stellt er unter ein Motto, das er dann nicht nur musikalisch umkreist, sondern auch mit Hilfe von Literatur, Film, Bildende Kunst und Theater. Ein neuer, ungewohnt ganzheitlicher Ansatz in der Klassik.

Die Ausstellung zeigt viele unbekannte Fotos

Den Facettenreichtum von Abbados Persönlichkeit versucht nun eine Ausstellung einzufangen, mit der die Berliner Philharmoniker ihres langjährigen Chefs zum Todestag gedenken. Kurator Oliver Hilmes hat sich dafür durch jenen Teil von Abbados Nachlass gearbeitet, den die Familie des Dirigenten der Berliner Staatsbibliothek vermacht hat. 1470 CDs, 1900 Partituren, 400 Fachbücher, 238 Langspielplatten, 92 Preise und Urkunden, Fanpost sowie zahllose Geschäftsbriefe galt es zu sichten und durch passendes Bildmaterial zu ergänzen. Denn Fotos finden sich im Abbado-Erbe keine.

So manche Trouvaille hat Oliver Hilmes anderweitig ausfindig gemacht: Ein Foto des in den Siebzigern kurzzeitig vollbärtigen Abbado beispielsweise dürften selbst viele Verehrer noch nie gesehen haben. Enttäuscht blickt der Maestro 1993 auf den mickrigen Blumenstrauß, der ihm nach der Landung der Philharmoniker-Maschine auf dem Wiener Flughafen überreicht worden ist, angespannt wirkt er 1991 bei einer Pressekonferenz in Moskau im Rahmen des ersten Gastspiels des Orchesters seit 1969.

Rätselhaft sind die kleinen „Dirigierzettel“, die Abbado sich von vielen Werken anfertigte, oft auf der Rückseite von Hotel-Notizblöcken. In vielfacher Vergrößerung sind zwei davon in der Ausstellung zu sehen. Man steht staunend davor, ohne wirklich dahinter zu kommen, wie genau die hieroglyphenhaften, mit Bleistift geschriebenen Zahlen- und Buchstaben-Folgen ihm einst als Gedächtnisstütze dienen konnten.

Karajan nannte ihn „die größte Begabung, die es heute gibt“

Eine weitere Angewohnheit Abbados war, auf der Titelseite seiner Partituren jeweils einzutragen, wann und wo er das Werk dirigiert hat. Oliver Hilmes hat für die Ausstellung im Philharmonie-Foyer Alban Bergs „Lulu“-Suite ausgewählt, auf der als erstes „Berlin 64“ steht. Bei seinem zweiten Auftritt mit dem damaligen Radio-Sinfonie-Orchester hört ihn Herbert von Karajan – und lädt ihn sofort zu den Berliner Philharmonikern ein. Nach diesem Debüt berichtet ein begeisterter Karajan dem Hamburger Opernintendanten Rolf Liebermann in einem Brief, der ebenfalls zu sehen ist: „Es ist außer Zweifel, dass er die größte Begabung ist, die es meines Wissens heute gibt.“

Eine Weltkarriere folgt in der Tat, erst nach fast 3500 Auftritten muss Claudio Abbado den Taktstock für immer niederlegen. 76 Mal hat er das von ihm 2003 gegründete Lucerne Festival Orchester geleitet, 147 Mal das Chicago Symphony Orchestra, 357 Mal das London Symphony Orchestra, , wie in der aktuellen Ausgabe des Philharmoniker-Magazins „128“ nachzulesen ist. Auf 529 Mal kommen die Wiener Philharmoniker, auf 544 Mal das Orchester der Mailänder Scala. In der Spitze des Rankings aber stehen, mit 688 Aufführungen, seine Berliner.

Wie sehr ihn 1989 die Wahl zum Chefdirigenten beglückt hat, wird auf wunderbare Weise in einem lustigen Lapsus deutlich, einem fehlenden „n“, das ihm in der Euphorie des Augenblicks beim Verfassen des Dankesbriefs abhanden gekommen ist. Mit den Worten „Liebe Freude des Berliner Philharmonischen Orchesters!“ nämlich beginnt das Schreiben, in dessen Verlauf Abbado dann seiner Hoffnung Ausdruck verleiht, „dass wir unsere musikalische Bekanntschaft nunmehr vertiefen und in einer dauerhafte Freundschaft umwandeln können“. Ein Wunsch, der aufs Beglückendste und Nachhaltigste in Erfüllung gehen sollte.

Die Foyerausstellung ist während der Öffnungszeiten der Philharmonie zu besichtigen. „In memoriam Claudio Abbado“ tritt am 26. Januar das 1981 von ihm mitgegründete Chamber Orchestra of Europe im Kammermusiksaal auf.

Mehr Kultur? Jeden Monat Freikarten sichern!

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Check Also

Kim bettelt um Spenden für Papa und Opa

Die Sanktionen drücken und Kim scheint kaum noch Geld zu haben. Alles fließt in sein Raket…