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Kultur - 15.06.2019

Nichts muss, alles kann

Antihaltung und Suche nach Alternativen: Die Kreuzberger Galerie Kajetan widmet sich dem unterschätzten Maler Claude Viallat.

Stoffprobe. Claude Viallats Bild „2018 / 139“ von 2018.

Was in den Räumen von Tobias Posselt hängt, füllt gerade einen Koffer. Dabei eignet sich seine noch junge Galerie „Kajetan Berlin – Raum für Kunst“, ein ehemaliges Kreuzberger Künstleratelier, für jedes Format bis hin zum monumentalen Werk. Doch Claude Viallat, den Posselt aktuell ausstellt, hat gar kein Interesse am Spektakulären. Der französische Künstler, Jahrgang 1936, unterläuft im Gegenteil alles, was nach großer Geste aussehen könnte.

So verzichtet Viallat seit den 1960er- Jahren auf Keilrahmen. Straff gezogene Leinwände sucht man in seiner künstlerischen Biografie vergeblich. Stattdessen hängen die Bilder wie übergroße Lappen in seinen zahllosen Ausstellungen. Der Künstler näht seine Gemälde aus Bettlaken, Kleidern und Tischdecken zusammen. Das macht sie zu formlosen Objekten im besten Sinn – ein Protest gegen das klassische Rechteck, dessen begrenzender Radius das Tafelbild immer schon eingeschränkt hat.

Diese absichtsvolle Formlosigkeit geht allerdings noch weiter. Viallat, der bis 1959 an der Kunstakademie in Montpellier studierte und anschließend nach Paris an die École des Beaux-Arts ging, hat lange nach einem Vokabular für sich gesucht, das kein Vorbild in der Wirklichkeit hat. Am Ende verfiel er auf ein seltsam amorphes Muster, das sich als wiederkehrendes Motiv durch sein Werk zieht. Ein All-Over ohne konkrete Assoziationen oder eine Hierarchie der Blickführung. Alles darf, nichts muss: Für den französischen Künstler ein Idealzustand.

Viallat, dessen Werk in zahlreichen internationalen Museen vertreten ist und der als Mitglied der einst wichtigen Supports-Surfaces-Bewegung in Frankreich hohes Ansehen genießt, wird in Deutschland eher marginal gewürdigt. Zuletzt widmeten ihm das Ludwig Museum in Koblenz und die Kunsthalle Rostock 2014 einen Rückblick und zeigten neben Schlüsselwerken aus früheren Phasen auch jüngere Arbeiten. In den Berliner Kunstsaelen offenbarte sich zwei Jahre später in der Ausstellung „French Connection – Perspectives on Support/Surface“ die sinnliche Qualität von Bildern und Objekten aus der Hand etwa von Daniel Dezeuze oder Noël Dolla. Bei Kajetan in Berlin machen nun über ein Dutzend ebenso radikaler wie ästhetischer Beispiele klar, welche Bedeutung die Support-Surface-Experimente für nachfolgende Generationen besaßen: Die Überwindung zahlreicher traditioneller Vorstellungen im Umgang mit der Kunst und ihren Materialien schuf Raum für neue Ideen. Dazu gehört die Verwendung gemusterter – wie ausgemusterter – Stoffe aus industrieller Produktion. Gestische Malerei, die hyperindividuelle Ausdrucksform der fünfziger Jahre, war dagegen geradezu verpönt. An ihre Stelle trat die serielle, bewusst gleichförmige Bearbeitung von Textilien mithilfe von Schablonen. Eine Vorgehensweise, die vor allem Viallat über die Jahrzehnte perfektioniert hat. Was das bedeutet, zeigt seine aktuelle Schau: Der Künstler variiert mit möglichst reduzierten Mitteln auf maximalem Niveau.

Flexible, fragmentarische Malerei

Kein Bild der Ausstellung „Malereien“ ist wie das andere. Die Gleichförmigkeit, was Untergrund und Motiv anbelangt, gleicht eher einer meditativen Übung, der sich Viallat unterwirft, um aus der Wiederholung das Individuelle zu schöpfen – und nicht aus der Geste. In dem L-förmigen Raum verteilen sich seltsam vieleckige Gebilde. Mache sind lang wie Fahnen, andere aus mehreren Stoffen montiert. Dazwischen wechseln Farben und Rhythmus oder lenken Löcher in der Oberfläche den Blick auf die weiße Wand. Gedruckte Muster auf den Stoffen konkurrieren mit den Interventionen des Künstlers und zwingen ihn zur Reaktion. Und auch hier wählt Viallat die sanfte Methode: Statt Vorgegebenes zu überwinden, bezieht er Schachbrett und Paisley, ja selbst die Ösen im Segeltuch mit in seine Arbeit, lässt sich davon im Dialog der Materialien, dem Zufall und anderen äußeren Einflüssen inspirieren.

Das Ergebnis ist eine ebenso weiche wie flexible, fragmentarische Malerei. Keine Behauptung, sondern ein Austrarieren unterschiedlicher Kräfte. Ein ewiger Balanceakt. So stellt der Künstler infrage, was die Moderne über Jahrzehnte propagierte. Fortschritt, die Lösung aller Probleme im Übermorgen, Ideologien. Für Claude Viallat und seine Zeitgenossen war dies nach 1945 keine Option mehr. Sie beschäftigte das Greifbare, Tatsächliche und ihre eigene Rolle im Feld der beiden Pole: Konzeptkunst und illusionäre Malerei.

Dekonstruktion war die Konsequenz, ein kritischer Blick auf Leinwand, Farbe, Form und Kanon. Die Kunst in Viallats Atelier, das bis heute in Nîmes liegt, entwickelte sich aus dieser Antihaltung und der Suche nach möglichen Alternativen. Keine Geometrie und keine Abstraktion, stattdessen offene Konstellationen und ewige Neugier. Dass sich aus dieser Verneinung heraus eine eigene, hoch sensible, wunderbare Sprache entwickelt hat, zeugt von Viallats besonderer Begabung.

Galerie Kajetan – Raum für Kunst, Gneisenaustr. 33; bis 22.6., Mi–Fr 14–19 Uhr, Sa 12–16 Uhr

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