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Kultur - 10.05.2019

Mehrheitsfindung mit Schildkröte

Cybermobbing, Rassismus, Demokratie: Das Berliner Kinder- und Jugendtheaterfestival „Augenblick mal!“ behandelt eine Vielzahl an relevanten Themen.

Die Schildkröte will immer nur Salat: Die Hamburger Inszenierung von „Jetzt bestimme ich!“

Wer hat in der Familie eigentlich das Sagen? Im Falle der Wiefels ist diese Frage vergleichsweise leicht zu beantworten. Die Mutter erklärt die häuslichen Prozesse der Entscheidungsfindung anhand eines anschaulichen Modells, genannt „Das Bestimmer-Karussell“. Es funktioniert wie folgt: Sie bestimmt über den Papa, der über die Tochter, die über den jüngeren Bruder, der über die Schildkröte Rainer-Maria. Und die wiederum gibt der Mutter den Takt vor. Einleuchtend. Und sicher weltweit mit variablen Haustieren so oder ähnlich praktiziert.

Der Haken am Karussell ist das gesamtfamiliäre Zufriedenheits-Level, den es produziert. Schließlich will die blöde Schildkröte immer nur Salat essen, die Kinder wünschen sich aber Pommes. Um solche Streitfälle des Zusammenlebens in den Griff zu bekommen, verfallen die Wiefels auf eine Idee: „Wir entscheiden demokratisch!“ Auch leichter gesagt als umgesetzt.

Die Inszenierung „Jetzt bestimmte ich!“ der Hamburger Gruppe Meine Damen und Herren (MDUH) basiert auf dem gleichnamigen Bilderbuch von Juli Zeh und Dunja Schnabel und setzt im rosarot gefärbten Setting die Mühen der Mehrheitsfindung ansteckend aberwitzig ins Bild. Das Stück in der Regie von Charlotte Pfeifer und Martina Vermaaten ist eine von zehn Produktionen, die zum diesjährigen Festival Augenblick mal! eingeladen sind. Das findet seit 1991 in Berlin statt und steht im Rang eines Theatertreffens für professionelles Kinder- und Jugendtheater, abgehalten im Zweijahrestakt.

Schauspieler mit und ohne Behinderung

Schirmherrin ist die Bundesministerin Franziska Giffey, die bei der Eröffnungsveranstaltung im Theater an der Parkaue schwärmt, schon als Bezirksbürgermeisterin von Neukölln habe sie im Jugendfach „so oft gesehen, dass sich Talente und Herzenswärme auf der Bühne entfalten“. Wo genau, das verrät sie nicht, spielt aber auch weiter keine Rolle.

Talent ist ein treffendes Stichwort für das inklusive Ensemble MDUH, das schon beim Festival No Limits in Berlin starke Auftritte hatte. Und natürlich birgt es einen besonderen Reiz, Schauspieler mit und ohne Behinderung zusammen Demokratie verhandeln zu lassen, schließlich ist das Versprechen dieser Verfassungsform, möglichst keine Ausschlüsse zu produzieren, permanent prüfbedürftig.

Das Schwimmbad versinkt in Videogewittern

Ein strahlkräftiges Beispiel für bemerkenswertes inklusives Theater gastiert auch mit der Produktion „Mädchen wie die“ vom Jungen Schauspiel Hannover, in der gehörlose und hörende Schauspielerinnen und Schauspieler die Geschichte eines Cybermobbings in Wort und Gebärdensprache verhandeln. Im Stück von Evan Placey geht es um Scarlett, die ihrem Freund ein Nacktfoto geschickt hat. Das verbleibt nur leider nicht exklusiv auf dessen Smartphone, sondern zieht Kreise. Das folgende Bashing, die fehlende Herzenswärme gerade unter den Freundinnen, verschränkt Placey mit einer Familiengeschichte starker Frauen zwischen den 20er und 80er Jahren – gipfelnd in einem großartigen Empowerment-Finale.

In Wort und Gebärdensprache: Das Stück „Mädchen wie die“.

Regisseurin Wera Mahne hat dafür nicht nur ein tolles Ensemble zur Verfügung (Pia Katharina Jendreizik, Elena Schmidt, Kassandra Wedel und Dennis Pförtner), sondern findet auch ästhetisch einen Zugriff: das leere Schwimmbad als Schauplatz (Bühne: Anna Siegrot) versinkt immer wieder in Videogewittern, in Schriftbildern und Zeichen auch für den Overkill der Social Media.

Ein an Highlights reicher Festival-Jahrgang

Formen- und Themenvielfalt der bundesweiten Kinder- und Jugendtheaterlandschaft abzubilden ist ein Anspruch, den das Festival überzeugend einlöst, auch mit Reibungsflächen. Etwa im Falle der Produktion „Waisen“ (Junges Theater Bremen). Dennis Kellys berühmtes Stück deckt ja peu à peu die Folter eines arabischen Mannes durch einen britischen Jugendlichen auf. Und wo dieses Opfer in der Vorlage namenlos bleibt, tritt es hier in Gestalt des Schauspielers Abdulaziz Aburas auf und fordert, ihm die Schmähungen direkt ins Gesicht zu sagen. Aus den rassistischen Zuschreibungen erlöst das seine Figur freilich nicht.

Gleichwohl ist es ein an Highlights reicher Festival-Jahrgang. Die Spanne reicht von der Produktion „Helden“ der Gruppe subotnik, die mit einem Chor aus Schülerinnen und Schülern die Argonauten-Saga im Modus des packenden Storytellings befragt. Bis zum Stuttgarter Projekt „Girls Boys Love Cash“, das in der Stadt zum Thema Sexarbeit recherchiert hat. Auch ein internationales Gastspielprogramm ist ans Festival angedockt – mit einem russischen Shakespeare zum Auftakt in den Sophiensälen, „Sociopath / Hamlet“. Andrey Prikotenko zeigt seinen Dänenprinzen als Gefangenen der Netzwelt und hat eine klare, Deutung: Der Junge muss an die frische Luft.

Bis 12. Mai im Theater an der Parkaue, Grips, Halle Ostkreuz und Sophiensäle

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