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Kultur - 16.12.2018

„Kino und Streaming können gut koexistieren“

Vor dem Europäischen Filmpreis: Gespräch mit Peter Dinges, dem Brüssel-erprobten Chef der deutschen Filmförderanstalt.

Italien oder Polen? Als Filmpreis-Favoriten gelten Alice Rohrwachers Sozialmärchen „Glücklich wie Lazzaro“ (Bild) und Pawel…

Peter Dinges, 1961 in Saarbrücken geboren, arbeitet seit den 90er Jahren als Jurist in der Filmbranche und leitet seit 2004 die Filmförderungsanstalt (FFA) mit Sitz in Berlin. Seit 2014 war Dinges auch in Brüssel tätig, als Präsident des Europäischen Verbands EFAD, in dem die nationalen Fördereinrichtungen in der EU zusammengeschlossen sind. Der Etat der FFA von jährlich rund 75 Millionen Euro wird nicht aus Steuergeldern, sondern von der Filmwirtschaft finanziert – über gesetzlich geregelte Abgaben der Kinos, der Sender und der Videowirtschaft.

Herr Dinges, Sie waren gerade vier Jahre lang Präsident des Verbands der Europäischen Filmförderer – über Ihre Nachfolge wird jetzt am Rande der Filmpreisverleihung in Sevilla entschieden. Gibt es das überhaupt, den europäischen Film?

Vielleicht mehr als je zuvor. Man muss gar nicht so weit zurückgehen wie bis zu Michael Hanekes „Das weiße Band“ von 2009, dessen Entstehungshintergrund irgendwo zwischen Deutschland, Österreich und Frankreich angesiedelt ist – und der dann für Deutschland ins Oscar-Rennen ging. Nehmen Sie „Cold War“ von Pawel Pawlikowski, einer der Favoriten beim Europäischen Filmpreis: eine Koproduktion zwischen Polen, Großbritannien und Frankreich. Auf der gesamten Liste der Nominierten finden sich fast nur Koproduktionen. Europäisch, das bedeutet Gemeinsamkeit in der Herstellung wie bei der Kreativität. Was eine nationale Farbe nicht ausschließt.

Gibt es inhaltliche Gemeinsamkeiten?

Nein, das ist früher versucht worden, etwa mit gemischt-europäischen Besetzungen. Das hieß dann Euro-Pudding und war zum Scheitern verurteilt. Der individuelle, nationale Film mit kreativen Partnern aus ganz Europa, das ist für mich der europäische Film.

Bei den Filmpreis-Nominierungen ist kein einziger deutscher Film dabei, nicht einmal Christian Petzolds „Transit“. Ist der deutsche Film so schlecht?

Nein, noch 2016 räumte „Toni Erdmann“ von Maren Ade fast sämtliche Europäischen Filmpreise ab. Im Moment haben wir vielleicht nicht den Film, der die European Film Academy überzeugt – was eine Ausnahme ist. Aber ich freue mich, dass Marie Bäumer bei den Darstellerinnen für ihre Rolle als Romy Schneider in „3 Tage in Quiberon“ nominiert ist.

Die einzige wichtige deutsche Nennung überhaupt. Was haben Sie in Ihrer Zeit in Brüssel gelernt?

Ich habe gelernt, wie mühevoll es sein kann, wenn 31 Länder zusammenarbeiten, und wie schön es ist, wenn es dann doch funktioniert. Wie unterschiedlich Geschmack, Mentalität und Einstellung zum Thema Film sind und dass es diese Unterschiede zu respektieren gilt.

Derzeit findet ein Branchenkrieg zwischen dem Kino und einigen Streamingdiensten statt, die sich nicht an die gängigen Verwertungsregeln halten. Wie nehmen Sie diese Auseinandersetzung wahr?

Es ist in der Tat eine große Umwälzung. Mit den Streamingdiensten gibt es zunächst einmal neue hohe Investitionen – über die man sich freuen kann. Es gibt neue Auswerter, neue Abspielformen, neue Inhalte, sprich: Serien. Mitte des Jahres war es hier in Berlin schwer, Filmschaffende für Kinoproduktionen zu bekommen, weil viele gerade bei einer Serie beschäftigt waren. Vollbeschäftigung bei der Filmproduktion hatten wir schon lange nicht mehr. Auch am Ende der Kette ist das klassische duale System mit Kino und Fernsehen als den beiden Hauptverwertern um eine dritte Partei erweitert worden. Allerdings sollten die Streamingdienste auch die Spielregeln einhalten.

Peter Dinges; Leiter der Filmförderungsanstalt (FFA).

Sie meinen das sogenannte Verwertungsfenster? In Deutschland darf ein Film in der Regel erst sechs Monate nach seinem Kinostart anderweitig ausgewertet werden. Im Falle von „Roma“, dem Gewinner des Goldenen Löwen in Venedig, hält Netflix sich nicht daran.

Im Moment zeigen die Kinos, die „Roma“ im Programm haben, den Film als sogenannten „Alternative Content“, als Sonderveranstaltung, wie eine Opernübertragung. Aber Filme, die fürs Kino gemacht sind, sollten auch regulär im Kino gespielt werden. „Roma“ allerdings ist ein anderer Fall, denn Netflix hat den Film voll finanziert, also können sie ihn herausbringen, wie sie wollen. Mit Spielregeln meine ich, dass die Plattformen ihre Steuern und Förderabgaben zahlen sollen, dass sie ihre Firmen nicht in Steueroasen ansiedeln und sich zum europäischen System bekennen. Von den französischen Kollegen höre ich, dass die Streamingdienste dort ihre Abgaben zahlen.

Netflix zahlt in Deutschland bisher nicht, obwohl es gesetzlich vorgeschrieben ist.

Wir sind mit den Plattformen in konstruktiven Gesprächen, mit Netflix, Apple und anderen internationalen Unternehmen. Vor dem Europäischen Gericht haben sie vergeblich gegen eine Verpflichtung zu nationalen Abgaben geklagt. Jetzt reden wir miteinander, ich bin da zuversichtlich.

Werden die Sperrfristen zum Schutz des Kinos trotzdem fallen?

Nein. Jeder, der in Filme investiert, die Verleiher, die Kinos, die Fernsehanstalten, die Pay-TV-Sender, aber eben auch Netflix oder Amazon – sie alle beanspruchen für sich ein exklusives Fenster bei der Verwertung. Wenn Kinos investieren, was sie mit ihren Förderabgaben ja tun, haben auch sie das Recht auf befristete Exklusivität. Also wird es bei allen Filmen, die mit Fördermitteln entstehen, immer ein Verwertungsfenster geben.

Die allermeisten deutschen, auch die französischen Kinos zeigen einen Film wie „Roma“ nicht. Sie sagen: Wir sind keine PR-Plattform für Netflix, das „Roma“ hier am Freitag online startete, nur eine Woche nach dem sehr limitierten Kinostart.

Die Kinos müssen sich entscheiden: Wie viel Respekt vor ihrem Verwertungsfenster können sie verlangen, wie viel gewinnen sie vielleicht aber auch, wenn sie Filme parallel zur Online-Verwertung zeigen? Für beide Varianten gibt es ein Publikum, deshalb lohnt es sich, Kompromisse auszuhandeln. Solche Modelle existieren bereits mit anderen Streamingdiensten, zum Beispiel bei „Paterson“ von Jim Jarmusch, der in Deutschland vor zwei Jahren knapp 200 000 Besucher hatte, aus dem Portfolio von Amazon Prime Video.

Netflix argumentiert mit dem Zuschauer. Die Leute gucken jetzt halt zu Hause, warum noch der Schutz der Filmtheater?

Auch wenn sich das Besucherverhalten verändert, verzeichnen die Kinos weiter starke Besuche. Die Woche über guckt man abends zwar eher zu Hause, am Wochenende aber zieht der Eventcharakter des Kinos. Und das muss gestärkt werden: das Bewusstsein für das Kino als kulturellen, sozialen Ort. Das heißt, Streaming und Kino schließen einander nicht aus, sie können friedlich koexistieren. Die sogenannten Multi-User tun schon jetzt beides, sie gucken online und gehen ins Kino. Den Verdrängungswettbewerb gibt es eher zwischen Streaming und Fernsehsystemen, insbesondere zwischen Pay-TV und Abodiensten.

Der Anteil des Kinos an der Entertainment-Industrie ist bei den Halbjahreszahlen im Sommer erstmals unter die Zehn-Prozent-Marke gerutscht. Müssen die Kinos attraktiver werden?

Das Kuratieren eines guten Programms wird immer wichtiger, denn die Algorithmen der Online-Anbieter werden an ihre Grenzen geraten. Mehr als bisher müssen die Kinos aber auch den Kontakt zu den Zuschauern suchen. König Kunde, der Besucher, will ernst- und wahrgenommen werden. Netflix, Amazon und Co. machen das jeden Tag, sie wenden sich unmittelbar an die Abonnenten. Auch das Kino muss seine Kundenansprache digitalisieren und individualisieren. Das ist der Gedanke beim jetzt vom Bund aufgelegten Zukunftsprogramm Kino: Ein schönes Foyer, gute Bildqualität und bequeme Kinosessel genügen nicht mehr, die Filmtheater müssen sich um Smart Data und Social Media kümmern. Andernfalls werden sie ihren einzigartigen Eventcharakter nur schwer ausspielen können.

Die Umsatzeinbußen bei der deutschen Filmbranche werden 2018 etwa 15 Prozent betragen. Liegt’s am Jahrhundertsommer?

Überall war es heiß, überall lief die WM, aber nicht in allen Ländern sind die Zahlen so bescheiden. Die Franzosen gehen trotz Hitze ins Kino und selbst dann, wenn die Nationalmannschaft ins Endspiel kommt. Einen Film schaut man sich dort auch an, wenn die Kritiken schlecht sind, weil es zum guten Ton und zur Allgemeinbildung gehört, ihn gesehen zu haben. Jeder will mitdiskutieren, Filme haben einen hohen gesellschaftlichen Wert, wie auch in den USA. Die Deutschen hingegen wählen zwischen verschiedenen Freizeitangeboten und werden dem Kino untreu, wenn es attraktivere Optionen gibt. Aber Kino ist zyklisch, es ging immer auf und ab. Mit den Jahren haben wir immerhin eine Leidenschaft für den eigenen Film entwickelt. Immerhin haben wir in diesem Jahr schon fünf deutsche Besuchermillionäre. Vor 2019 ist mir nicht bang.

Kann Deutschland etwas von anderen europäischen Ländern lernen?

Die kulturellen, wirtschaftlichen und geografischen Unterschiede sind groß. Förderung ist auf Maß gemacht, sie funktioniert im kleinen Luxemburg anders als in Frankreich, wo wiederum die Wertigkeit des Kinos anders ist als im Baltikum. In südlichen Ländern wird nach der Finanzkrise mit der audiovisuellen Wirtschaft anders umgegangen als in den nördlichen Ländern. Umso erfreulicher ist es, dass die Zusammenarbeit zunimmt. Zum Beispiel haben sich Estland, Lettland und Finnland gerade zur North Star Film Alliance zusammengetan, für ein gemeinsames Steueranreizmodell, auch denken wir gerade über eine Erweiterung der deutsch-französischen Zusammenarbeit auf andere Partnerländer nach. Das ist für mich die Zukunft: grenzüberschreitendes Engagement, trotz aller Maßanzüge.

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