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Kultur - 15.06.2019

Jahre der Unsicherheit

Jim Loach’ „Measure of a man“ ist das behutsame Porträt eines übergewichtigen Jungen.

Der 14-jährige Bobby (Blake Cooper) ist von allen Seiten Demütigungen ausgesetzt.

In der Badewanne, das Gesicht nach oben, unter den Meeresspiegel sinken, die Luft anhalten und entweder gar nicht mehr auftauchen oder irgendwann wieder laut prustend fühlen, was Luft, was Leben, was Rettung ist. Bobby hat sich bisher immer für die zweite Möglichkeit entschieden, obwohl er über die erste oft nachgedacht hat. Ein Mondgesicht taucht also wieder zurück an die Oberfläche des Daseins, das für dicke Jungen eine einzige Prüfung sein kann, die sie doch nicht bestehen. Einer der schlimmsten Teile: die Sommerferien. Bobby hasst die Sommerferien. Andere überlegen, wie sie sich am besten zeigen. Bobby denkt nur darüber nach, wie er sich am besten versteckt. Im Kühlschrank, dem größten Trost seines Lebens?

„Measure of a Man“ ist nach „Oranges and Sunshine“ (2010) der zweite Kinofilm von Jim Loach, Ken Loachs Sohn. Und fast ist es wie im Werk des Vaters: Die Geschichte ist so einfach, klar, packend, als liege sie bereits fertig herum und man müsse sie nur noch aufheben. Die Loach-Hermetik eben. Ein Regisseur, könnte man bei solchen Filmen meinen, ist nur jemand, der Geschichten findet, die andere übersehen. Dies ist Jim Loach’ erster Film in Amerika. Er hat einen umwerfenden Hauptdarsteller: Blake Cooper gibt diesem 14-Jährigen, der sein Idealgewicht vielleicht auf immer verfehlen wird, eine wunderbare Verletzlichkeit und zugleich Stärke, er trägt den Film in jeder Szene.

Amerika 1976. Ja, der Sommer ist die schlimmste Jahreszeit. Nicht nur, weil Menschen jetzt dazu neigen, sich zu entblößen, eine Form der Selbstdarbietung, die Bobbys Sozialprestige nicht förderlich ist. Zudem ist der kleine Ort am See, wo das Ferienhaus seiner Eltern steht, voller Fremdenfeinde. Die Einheimischen mögen die Städter nicht, die nur im Sommer kommen und glauben, alles gehöre ihnen. Was ist das Leben? Eine Veranstaltung zur unausgesetzten Demütigung dicker Jungen. Aber im Juli am See wird es latent lebensgefährlich. Da sucht Bobby sich lieber einen Job: Rasen mähen bei Dr. Kahn! Doch sein Organismus ist nicht dafür gemacht, den Graswuchs ganzer Parks niederzuhalten. Donald Sutherland spielt den verschrobenen Privatier, der anfangs nur eine Demütigungsinstanz mehr zu sein scheint. Einmal gerät auf seinem Unterarm kurz eine tätowierte Nummer ins Bild, aber der Film erklärt nichts, so wie das Leben die meisten Dinge nicht erklärt. Nicht zuletzt das macht seine Stärke aus, ein guter Erzähler erzählt nie zu viel.

Das Kino liebt Filme übers Erwachsenwerden. Und so viele es auch sind, fast nie würde man sagen: Kenne ich schon, hab ich schon gesehen! Sie sind immer wieder neu und unverwechselbar wie jeder Lebensanfang. Vorausgesetzt, sie berichten so gut, so sicher von den Jahren größter Unsicherheit wie Jim Loachs „Measure of a Man“.

Im Sputnik Kino (deutsch und OmU)

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