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Kultur - 14.06.2019

Im Königreich der Fastnacht

Die Salzburger Festspiele eröffnen mit Lydia Steiers bunter Inszenierung von Mozarts „Zauberflöte“.

Entführer und Entführte. Matthias Goerne als Zirkusdirketor Sarastro und Christiane Karg als Pamina.

Zu Mozarts „Zauberflöte“, könnte man meinen, ist alles gesagt. Nur eben nicht von jedem. Kein Musiktheaterstück wird im deutschsprachigen Raum öfter gespielt, regelmäßig belegt die 1791 uraufgeführte Oper den Spitzenplatz in der Statistik des Deutschen Bühnenvereins, allein in der Spielzeit 2016/17 kamen 23 verschiedene Neuinszenierungen in den bundesrepublikanischen Theatern heraus, bei 237 Aufführungen wurden 231 699 Besucher gezählt.

Und auch für die Salzburger Festspiele gehört Mozarts Meisterwerk zu den Stützen des Programms: Oscar Fritz Schuh und Otto Schenk haben es hier interpretiert, Giorgio Strehler und Jean-Pierre Ponnelle, Achim Freyer, Pierre Audi und zuletzt, 2012, Jens-Daniel Herzog. Um so erstaunlicher, dass Lydia Steier zur Eröffnung der diesjährigen Festspiele tatsächlich noch einmal ein wirklich überraschender Zugriff auf die Geschichte von Sarastro und Co. gelungen ist.

Die erste Frau, die beim berühmtesten Klassikevent der Welt die „Zauberflöte“ deuten darf, erzählt die Story aus der Perspektive der drei Knaben. Unter den vielen Rätseln, die Emanuel Schikaneders Libretto den Regisseurinnen und Regisseuren aufgibt, ist dieses Minderjährigen-Trio eines der größten. Von der Königin der Nacht werden die als „jung, schön, hold und weise“ beschriebenen Kinder zunächst Tamino und Papageno bei deren Suche nach der entführten Pamina zur Seite gestellt. Wenn die beiden Männer in Sarastros Reich dann schwere Prüfungen zu bestehen haben, scheinen die Knaben aber plötzlich zur Gegenseite gewechselt, ermahnen Papageno und Tamino wiederholt, sich Sarastros Regeln zu unterwerfen.

Eine Epoche vor dem Kollaps

Die 1978 im US-Bundesstaat Connecticut geborene Lydia Steier, die ihr Handwerk als Regieassistentin an der Komischen Oper Berlin gelernt hat, entledigt sich jetzt aller Interpretationsprobleme durch einen raffinierten Kunstgriff: Wenn sich der Vorhang im Großen Salzburger Festspielhaus öffnet, sieht man auf der Breitwandbühne das Interieur einer noblen Wiener Villa. Es ist die Epoche kurz vor dem Kollaps der K.u.k.-Monarchie, der Hausherr achtet streng auf Etikette, die Mutter neigt zu hysterischen Anfällen und ist vermutlich bei Dr. Freud in Behandlung, das Dienstpersonal wuselt herum. Entspannt gibt sich hier nur der Großvater, wenn er im Ohrensessel Platz nimmt, um den Söhnen der Familie eine Gute-Nacht-Geschichte vorzulesen.

Es dauert nicht lange, bis das Fenster aufspringt, und ein junger Mann ins Kinderzimmer hechtet – auf der Flucht vor einem Drachen, der ein paar effektvolle Flammen in den Raum faucht, bevor er von drei beherzten Hausdamen per Schrotflinte erledigt wird. Die Fantasie bricht ins reale Leben ein, literarische Figuren mutieren zu realen Personen, die bekannten Menschen aus dem Alltag der Kinder erstaunlich ähneln. Spielzeuge werden zu Requisiten in diesem nächtlichen Abenteuer, das durchaus auch albtraumhafte Züge bekommen kann. Denn wenn es zum Äußersten kommt, zur Feuer- und Wasserprobe, wird Opa vom Krieg erzählen, werden in grobkörnigem Schwarzweiß grausame Szenen von der Front (produziert von Fettfilm) über die Rückwand der Bühne flackern.

Lydia Steier hat sich von den „Little Nemo in Slumberland“-Comics inspirieren lassen, in denen Windsor McCay von 1905 bis 1913 einen Jungen im Schlaf die wildesten Dinge erleben lässt. Virtuos überträgt sie das Prinzip auf die Oper, sprüht nur so vor Einfällen, überrascht mit tausend Details, ja gibt jedem der drei Jungs sogar seine ganz individuelle Charakterzeichnung.

Sarastro als Zirkusdirektor

In altmodischen Nachthemden, mit grauen Wollsocken an den Füßen, flitzen die Wiener Sängerknaben Jeong-min Lee, Matthew Helms und Philipp Rumberg durch die Szenen, greifen mutig ins Geschehen ein, flüchten sich aber immer wieder auch in den Schutz des großväterlichen Sessels. Leicht rotweinnasig wirkt Großschauspieler Klaus-Maria Brandauer in der Oparolle, die er kurzfristig von Bruno Ganz übernommen hat. Aber er rezitiert den von Ina Karr und der Regisseurin neu erfundenen Märchentext sehr musikalisch, bleibt auch dort souverän, wo er taktgenau auf die Orchesterzwischenspiele sprechen muss.

Natürlich steht Sarastro hier keiner Freimaurer-Loge vor, in der langatmig philosophische Fragen verhandelt werden, sondern er ist – ganz kindgerecht – Zirkusdirektor. Und weil Zampanos groß werden, wenn sie gut bluffen können, passt es, dass sich Matthias Goerne die Rolle gewünscht hat. Ende der neunziger Jahre war er ein clownesker Papageno in der legendären „Zauberflöte“ von Achim Freyer, jetzt schummelt sich der Bariton durch die Basspartie, obwohl er von Natur aus die dafür nötigen abgrundtiefen Töne gar nicht hat. Irgendwie zaubert er sie dann aber doch aus dem Hut. Und wirkt dabei auch noch charmanter als seine Gegenspielerin Albina Shagimuratova, die sämtliche Koloraturen der Königin der Nacht absolut treffsicher, aber auch ein wenig mechanisch abliefert.

Generell bleiben die sängerischen Eindrücke hinter den schauspielerischen zurück. Mauro Peters Tamino wirkt eher wie ein Operettentenor, Adam Plachetka ist ein vor allem knuffiger Papageno, und sogar Christiane Karg gelingt es nur in Momenten, das Herz ihrer Pamina offen- zulegen. Aber was macht das schon bei diesem faszinierenden Strudel aus Farben, Formen und Fastnachtskostümen, die Ursula Kudrna für die Welt der Illusionisten und Artisten entworfen hat!

Wie von Geisterhand bewegen sich dazu Katharina Schlipfs Bühnenbilder, lautlos zerteilt sich die Villa in ihre einzelnen Zimmer, gigantische Gerüste schweben herein, geschmückt mit bunten Varietélichtern. Sie beginnen umeinander zu kreiseln, lösen sich wieder, finden in neuen Konstellationen zusammen, als surreale Melange aus Wohnhaus und Industriearchitektur.

Wunder im Petticoat

Einen grandiosen Mummenschanz veranstaltet das Regieteam auch um Papagena, die zunächst als Greisin auftritt, bevor sie ihr wahres, 18-jähriges Antlitz zeigen darf. Wie eine Königin fährt sie herein, sicher fünf Meter groß. Oben ragt Birgit Linauer als alte Vettel heraus, die immer wieder marionettenhaft nach vorne kippt, wobei es wie verrückt aus ihrer Perücke staubt, unterm Tüll schlüpft schließlich Maria Nazarova hervor, allerliebst angetan mit einem wild wippenden Petticoat im Raffgardinen-Look.

Es geht wahrlich zauberhaft zu an diesem Abend. Irgendwie werden en passant dann auch noch alle sozialen Konflikte des beginnenden 20. Jahrhunderts einschließlich der russischen Revolution abgehandelt – aber da sind die Augen und das Hirn schon so reizüberflutet, dass man auf partielle Wahrnehmung umschalten muss, um noch Kapazitäten frei zu haben für das, was da so wunderbar aus dem Salzburger Orchestergraben tönt.

Unter der Leitung von Constantinos Carydis erscheinen die Wiener Philharmoniker, die doch sonst so sehr an ihrem traditionellen Mozartstil hängen, plötzlich wie ein Spezialensemble für Alte Musik, sehr schlank, sehr wenig, ungemein vital. Diesem Klang ist förmlich anzuhören, wie der 44-jährige Grieche mit der Musik atmet, wie er sie durch seinen Körper strömen lässt, bevor sie sich in Handbewegungen manifestiert. Keine der überraschenden Pausen, die er setzt, keine seiner Verzögerungen oder ungewohnten Betonungen wirkt der Partitur aufgepfropft, alles ereignet sich mit bezwingender Logik, im Sinne einer größtmöglichen Natürlichkeit des Gesungenen.

Fast noch faszinierender ist es, Constantinos Carydis beim Dirigieren zuzuschauen: Denn er scheint dabei wie die ideale Beute für Papageno, der im Libretto ja Paradiesvögel für die sternflammende Königin fängt. Seine Arme gleichen Schwingen, die er weit ausbreitet, elegant und elastisch, seine Finger sind die Federn, zuständig für die Feinsteuerung auf dem Flug durch den Notentext. Er kann ein Kolibri sein oder ein Adler, flattern und gleiten, je nachdem, was die Handlung verlangt, und er zieht die Musiker mit, animiert sie, wie ein Schwarm in ein und dieselbe Richtung zu streben, immer höher hinauf. Dem Zuhörer kann dabei fast schwindelig werden.

Arte zeigt „Die Zauberflöte“ am 4. August ab 20.15 Uhr, das ZDF sendet einen Mitschnitt am 5. August ab 22 Uhr.

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