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Kultur - 14.05.2019

Im Geist von Hannah Arendt

Am Berliner Bard College studieren Geflüchtete aus Syrien, Afghanistan und dem Irak. Jetzt eröffnet das College ein neues Wohnheim in Niederschönhausen.

Studierende des Berliner Bard College in einem Literaturseminar.

Spaziert man rund um die katholische Kirche St. Magdalena in Niederschönhausen durch das Villenviertel, stößt man immer wieder auf Fahnen, die leuchtend rot im Wind flattern und vor ehemaligen Botschaftsgebäuden aus DDR-Zeiten aufgepflanzt sind. Der Aufdruck verrät, dass es sich jetzt um Häuser des „Bard College“ handelt. Demnächst kommt ein neuer Bau hinzu, ein Wohnheim für die Studenten mit riesigen Fenstern, die Transparenz symbolisieren wollen.

Getauft wird es in einer feierlichen Zeremonie am morgigen Dienstag, den 14. Mai, auf den Namen des jüdischen Künstlers Henry Koerner, der einst vor den Nazis in die USA floh. Hier laufen künftig Fäden zusammen von den Schicksalen der Verfolgten des Dritten Reiches und den Geflüchteten aus den nahöstlichen Kriegsgebieten. Über allem weht der Geist von Hannah Arendt.

Erst vor zwei Jahren hat das College, Berliner Ableger der gleichnamigen privaten Hochschule in Annandale, New York, die institutionelle Akkreditierung durch den deutschen Wissenschaftsrat erhalten. Damit war der Integrationsprozess in die deutsche Hochschullandschaft abgeschlossen. Ein anderer Integrationsprozess hatte im Vorjahr 2016 gerade begonnen. Da gab es die ersten Vollzeitstipendien für Geflüchtete an der deutsch-amerikanischen Liberal-Arts-Universität, die interdisziplinäre Bachelor-Studiengänge in den Geistes- und Sozialwissenschaften oder auch in Wirtschaft in englischer Sprache anbietet. Heute sind unter den insgesamt fast 300 Studenten 32 junge Geflüchtete, überwiegend aus Syrien, Afghanistan und dem Irak.

Als jüdischer Künstler musste Henry Koerner vor den Nazis fliehen

In den ersten beiden Jahren können sie in den Wohnheimen leben, können das akademische Schreiben auf Englisch erlernen, an Sprachprogrammen teilnehmen, auch für die deutsche Sprache, an berufsbegleitenden Workshops und sich psychosozial betreuen lassen. Sie haben die Möglichkeit, während des ersten Jahres ihre Berufung für ein Spezialfach zu finden, indem sie sich ein breites Spektrum erarbeiten in Kursen zu den Themenfeldern Kunstgeschichte, Philosophie, Sozialgeschichte, Curatorial Studies und Kunstproduktion. Ein Unterschied zu den anderen Studenten wird nicht gemacht. Die müssen, abhängig vom Einkommen der Eltern, bis zu 28 000 Euro im Jahr Studiengebühren zahlen.

Einige der Geflüchteten werden wohl auch in dem neuen Wohngebäude unterkommen. Als jüdischer Künstler musste Henry Koerner mit 23 Jahren 1938 vor den Nazis aus Wien fliehen. Er emigrierte in die USA und kehrte, nachdem sein großes Talent aufgefallen war, nach dem Krieg als Gerichtszeichner zu den Nürnberger Prozessen zurück. Seine Familie war deportiert und ermordet worden. Bei einer anschließenden Reise durch Deutschland und Österreich entstanden Bilder, die sich explizit mit dem Holocaust und seinen Verlusten befassten. Im Haus am Waldsee wurden sie 1947 ausgestellt. Es war in Berlin die erste Ausstellung eines amerikanischen Künstlers nach dem Zweiten Weltkrieg.

Leon Botstein wurde mit 27 Jahren Präsident des College

Später lebte Koerner in Pittsburgh und schuf viel beachtete Titelbilder für das Time Magazine. Ihm saßen die Großen seiner Zeit Modell, darunter John F. Kennedy, Ludwig Erhard, Leonard Bernstein und Maria Callas. Seine Werke sind unter anderem im Whitney Museum in New York ausgestellt. Immer wieder kehrte er nach dem Ende des Krieges mit seiner Familie zurück in seine alte Heimat Wien.

Die Architekturskizze der neuen Henry Koerner Hall.

Die Reisen dorthin haben wohl auch seinen Sohn Joseph geprägt, der in den USA ein renommierter Kunsthistoriker ist und in Harvard lehrt. Dass man im Bard College eine besondere Beziehung zu Flüchtlingen pflegt, hat unter anderem mit der Geschichte des Präsidenten Leon Botstein zu tun. Dessen Eltern, jüdische Ärzte aus Russland, mussten ebenfalls vor den Nazis fliehen. Sie wählten den Weg über die Schweiz. Mit 27 Jahren wurde Botstein der wohl jüngste College-Präsident in den USA. Empfohlen hatte ihn Hannah Arendt. Deren Mann Heinrich Blücher lehrte damals am Bard College, so kam die Bekanntschaft zustande. Botstein ist Generalist in der besten Tradition des Colleges. Er betätigt sich unter anderem als Dirigent des American Symphony Orchestra und bemüht sich, vergessene Dirigenten wieder ins Blickfeld der Musikszene zu rücken.

Alle Bard-Studierenden werden sorgfältig rekrutiert

In seiner 160-jährigen Geschichte hat das Bard College häufig geflüchtete Studenten und Lehrende aufgenommen, das gehört zur Tradition dieser Institution. Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs gab es einjährige Stipendien für osteuropäische Studenten, von denen man dort natürlich auch etwas lernen wollte über die Gesellschaften, denen sie entstammten.

Alle Bard-Studenten werden sorgfältig rekrutiert. Gerade bei Geflüchteten, die in ihrer Heimat keinen Zugang zu einer freien Bildung haben, zum Beispiel weil sie der Opposition angehörten, will man sicher sein, dass die Anwärter ehrlich sind und passen und nicht falsche Tatsachen vorgeben. Mithilfe eines Netzwerks aus deutschen Wissenschaftlern und syrischen Oppositionellen sei das gut möglich, sagt Becker. Einige Studenten hätten in der Türkei als Journalisten, Faktenfinder oder Aktivisten gewirkt. Auch die Online-Plattform Kiron, das „Institute for International Education“ (IIE) oder das Higher Education Program, das der katholische Jesuiten-Orden für Flüchtlinge aufgestellt hat, helfen beim Findungsprozess. Zusätzlich zu üblichen Dokumenten wie Zeugnissen müssen die Bewerber Aufsätze schreiben und schriftlich begründen, warum sie ausgerechnet am Bard College studieren wollen. Am Ende des Auswahlprozesses gibt es noch Interviews, persönlich oder über Skype. Etwa 60 Prozent der Absolventen studieren nach dem Collegeabschluss weiter, zum Beispiel in Harvard, Cambridge oder Berkeley. Circa 40 Prozent wiederum arbeiten im Anschluss an das Studium bei NGOs oder auch im staatlichen Bereich, in den Medien oder in der freien Wirtschaft. Und irgendwann in einer friedlicheren Zukunft vielleicht in ihrer alten Heimat. Es wird dort schließlich nicht nur Ingenieure und Techniker für die Rekonstruktion der Gebäude brauchen, sondern immer auch Menschen, die eine neue Zivilgesellschaft mit aufbauen können.

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