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Kultur - 12.06.2019

Ihr Tagebuch wird heute mehr denn je gebraucht

Was Anne Frank in ihrem Versteck aufschrieb, machte das Drama der Judenvernichtung so greifbar. Ein Besuch in ihrem Amsterdamer Haus.

Anne Frank im Jahr 1942.

Natürlich fragt man sich, wie sie ihr Leben gelebt hätte, wenn man sie gelassen hätte. Wenn Anne Frank nicht im Februar oder März 1945 mit 15 Jahren im KZ Bergen-Belsen gestorben wäre, sondern ihren 90. Geburtstag an diesem Mittwoch erlebt hätte. Denn ja, so unendlich lange ist das alles noch gar nicht her, sie könnte noch am Leben sein, in unserer Gegenwart, am 12. Juni 2019.

So viele Konjunktive: Würde sie heute in Talkshows sitzen, bei Anne Will oder Sandra Maischberger, möglicherweise zum siebten, achten, zehnten Mal, und ihre Geschichte erzählen? Wäre sie Schriftstellerin geworden, was sie vorhatte? Und wenn, wäre sie ein Leben lang mit diesem einen Buch, dem Tagebuch, identifiziert worden, oder hätte sie sich weiterentwickelt, neue Themen und Ausdrucksformen erschlossen?

Wäre sie vielleicht sogar, auch das ist ja möglich, eine unbekannte Amsterdamer Frau geblieben, die ihr Tagebuch nie veröffentlicht hätte? Letzteres ist unwahrscheinlich, ab Frühjahr 1944 begann Anne Frank auf einer Loseblattsammlung, ihre Tagebucheinträge zu überarbeiten, Unwichtiges zu streichen, anderes aus der Erinnerung hinzuzufügen – erklärtermaßen mit dem Ziel, das Buch nach dem Krieg zu veröffentlichen.

Eine Stimme für sechs Millionen

Ein unerträglicher Gedanke, aber: Ist es vielleicht gerade ihr früher Tod, der das Tagebuch so wirkmächtig und zu einer der berühmtesten Erzählungen aus der Zeit des Holocaust gemacht hat? Hätte man dieser dünnen Stimme, die für sechs Millionen spricht, in den Nachkriegsjahrzehnten mit der gleichen Intensität zugehört, wenn sie überlebt hätte?

Die Frage kann man zum 90. Geburtstag stellen, aber sie ist, wie alle kontrafaktische Geschichtsschreibung, letztlich irrelevant. Was zählt, ist das, was passiert ist. Und da steht das Tagebuch als ein Monument in der Erinnerungslandschaft.

Pädagogisch so wichtig, weil sich Schülerinnen und Schüler leicht mit der Autorin identifizieren können. Es ist ihre Altersgenossin, die da schreibt. In einem Ton, der noch kindlich klingt, im nächsten Augenblick aber unfassbar erwachsen und rational, meist auch beides zugleich.

Wie am 9. Oktober 1942: „Ein schönes Volk, die Deutschen, und da gehöre ich eigentlich auch noch dazu! Aber nein, Hitler hat uns längst staatenlos gemacht. Und im Übrigen gibt es keine größere Feindschaft auf dieser Welt als zwischen Deutschen und Juden.“ Es sind Worte einer 13-Jährigen, die vor der Zeit reifen musste.

Acht Personen auf zwei engen Etagen

Anne Frank wird am 12. Juni 1929 in Frankfurt am Main geboren, zwei Tage nach Harald Juhnke übrigens. Die Familie emigriert bereits 1934 in die Niederlande. Als nach der deutschen Besetzung das Leben für Juden auch in Amsterdam immer bedrohlicher wird, taucht Vater Otto Frank am 6. Juli 1942 mit seiner Frau Edith Frank-Holländer und den beiden Töchtern Margot und Anne unter – im von der Straße aus nicht sichtbaren Hinterhaus seiner Marmeladenfirma Opekta an der Prinsengracht 263. Insgesamt werden hier acht Personen auf zwei engen Etagen zwei Jahre lang leben, mit Lebensmitteln versorgt von den fünf Firmenangestellten.

Zwei Jahre lang lebte Anne Frank mit ihrer Familie in einem Wohnungsteil, der hinter einem Bücherregal verborgen war.

Anne hat bereits am 12. Juni, noch in Freiheit, ein Tagebuch zum 13. Geburtstag geschenkt bekommen und sofort mit dem Schreiben begonnen. Ihrer fiktiven Freundin Kitty schildert sie fortan das Leben im Hinterhaus: die Differenzen mit der Mutter, die oft bleierne Langeweile, die Konflikte mit Fritz Pfeffer (im Tagebuch: Albert Dussel), der mit in ihr winziges Zimmer einzieht, die Krise, die ausbricht, wenn mal wieder die einzige Toilette verstopft ist, die Angst vor der Gestapo, die Sorge um die anderen Amsterdamer Juden. Aber auch Geburtstagsfeiern, die trotzdem möglich sind, und Funken der Hoffnung, wenn die Alliierten gewonnen haben oder Italien kapituliert. Die Untergetauchten hören alles im Radio.

Die Stimme des Tagebuchs verstummt für immer am 1. August 1944. Wer das Versteck verraten hat, konnte nie eindeutig geklärt werden. Am 4. August verhaftet der österreichische SS- Oberscharführer Karl Josef Silberbauer die Bewohner des Hinterhauses, sie werden über das Durchgangslager Westerbork nach Auschwitz-Birkenau deportiert. Als die Rote Armee näherrückt, kommen Margot und Anne schließlich im November nach Bergen-Belsen, zu dieser Zeit einer der entsetzlichsten Orte im Nazireich. Dort sterben sie im Frühjahr 1945 wahrscheinlich an Typhus.

Das Museum in Amsterdam wollten anfangs nur wenige sehen

Silberbauer arbeitet ab 1954 wieder bei der Wiener Polizei und wird Anfang der sechziger Jahre von Simon Wiesenthal aufgespürt, ein Verfahren gegen ihn aber eingestellt, weil er auf Befehl gehandelt habe. Er stirbt 1972. Vater Otto Frank, einziger Überlebender des Hinterhauses, entschließt sich 1947 zur Publikation des Tagebuchs seiner Tochter und gründet zehn Jahre später die Anne-Frank-Stiftung. Proteste retten zur gleichen Zeit das Haus Prinsengracht 263, das der neue Besitzer, ein Fabrikant, abreißen lassen will. Das Museum eröffnet 1960, nur wenige Menschen wollen es sehen.

Das hat sich radikal geändert. Heute steht es mit 1,3 Millionen Besucherinnen und Besuchern pro Jahr auf Platz 3 aller Amsterdamer Museen, nach Rijks- und Van Gogh-Museum. Was auch eine enorme Belastung für das interessierte Publikum und das eher ruhige Wohnviertel an der Westerkerk bedeutet hat. Ein Umbau war unausweichlich geworden. Die stundenlangen Wartezeiten sind durch Zeittickets ersetzt, die Ausstellung selbst modernisiert worden. König Willem Alexander hat sie im November 2018 eröffnet. Die Vorgeschichte bis zum Beginn des Verstecks 1942 ist jetzt stärker betont, vor allem aber die überwölbende Geschichte des Holocaust, deren Kenntnis nicht mehr vorausgesetzt werden kann.

Stumme, schummrig beleuchteten Räume

In der neugestalteten Ausstellung reden die Räume, obwohl oder gerade weil sie leer sind. Was spricht, sind Tapete, Türknauf, Lichtschalter, Putz, Fenstersprossen, alles original aus den vierziger Jahren. Fotografien rekonstruieren die ursprüngliche Einrichtung. Auch die Biografien der Helfer – Miep und Jan Gies, Bep und Johan Voskuijl, Victor Kugler – finden jetzt stärkere Beachtung.

Voskuijl zimmerte das berühmte drehbare Bücherregal, das die Luke ins Hinterhaus verdeckte. Hier schweigt der Audioguide: Die eindringlichste Maßnahme des Museums besteht im Weglassen. Die unscheinbaren, stummen, schummrig beleuchteten Räume sind die Herzkammer des Museums. Weil sie das Minidrama um die Untergetauchten und das viel größere Drama der Judenvernichtung so greifbar und anschaulich machen. Bewegend die Bildchen von Filmstars und anderen Prominenten, mit denen Anne Frank ihre winzige Kammer ausschmückte, die sie auch noch mit Fritz Pfeffer teilen musste: Ein Teenagerzimmer in Zeiten des Holocaust.

Video22.11.2018, 15:24 Uhr00:37 Min.Anne-Frank-Haus nach Umbau wiedereröffnet

Über den erfahren die Besucherinnen und Besucher mehr im Vorderhaus. Die Deportationsliste vom 3. September 1944 hängt aus, gelblich und verblichen, es war der letzte Zug, der überhaupt nach Auschwitz fuhr. 1019 alphabetisch sortierte Namen, darunter: „Frank, Anneliese, geb. 12.6.1929“.

Im Video erzählt der 1980 verstorbene Otto Frank – ein hagerer, nüchterner Mann, der durch die Hölle gegangen ist –, wie erstaunt er über das war, was Anne über ihn und ihre Mutter im Tagebuch geschrieben hat: „Ich glaube, dass die meisten Eltern ihre Kinder nicht wirklich kennen.“

Im Erdgeschoss das originale Tagebuch selbst und die später entstandenen losen Blätter, ausgestellt in Vitrinen in einem neuen, klimatisierten und gegen Erschütterungen gesicherten Raum. Auch die Publikationsgeschichte wird angerissen. Ein Plakat von 1956 wirbt für die erste Aufführung des auf dem Tagebuch basierenden Schauspiels am Schlossparktheater, Regie führte Boleslaw Barlog.

In Berlin hat auch seit 1998 das Anne Frank Zentrum mit einer eigenen Ausstellung seinen Sitz. Um das Tagebuch und seine humanistische Botschaft möglichst vielen Menschen zugänglich zu machen, arbeitet die Amsterdamer Stiftung – die nach dem Umbau selbst mehr Räume für Schulklassen zur Verfügung hat – weltweit mit solchen Partnerorganisationen zusammen. An diesem Mittwoch veranstaltet das Berliner Zentrum, wie jedes Jahr, einen bundesweiten Aktionstag an Schulen gegen Rassismus und Antisemitismus und für Demokratie.

Das Tagebuch der Anne Frank war immer aktuell, aber wer hätte gedacht, dass es 2019 wieder mehr denn je gebraucht würde? Es hat ja nicht nur Jugendlichen so viel zu sagen, übers Aufwachsen, über den Drang nach Freiheit und Individualität, über die Übernahme von Verantwortung.

Es spricht auch zu all jenen in Europa (übrigens auch in den Niederlanden) und Amerika, die sich aus Angst und Unsicherheit wieder an die eigene Scholle klammern, die aus- und abgrenzen und sich in die falsche Fürsorge von Rechtspopulisten flüchten.

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