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Kultur - 18.03.2019

Hungrig nach Erfahrungen

Zum Tod des Berliner Autors Michael Rutschky, ohne den das Feuilleton heute dröger aussähe.

Michael Rutschky in seinem Kreuzberger Arbeitszimmer.

Um an Michael Rutschky zu denken, reicht ein kleiner Spaziergang, der Moment des Zunickens und Kurz-in-die-Augenschauens mit den Menschen, die einem dabei begegnen. „Grußarbeit“ hat er dieses Ritual genannt. Oder ein Blick in die Zeitung mit ihren aufgeregten Kommentaren: „Meinungsfreude“. Oder, schon etwas anstrengender, das Zuhören bei komplizierten Erinnerungen voller Entbehrungen: „Desillusionsroman“.

Die Politik ein umkämpftes Feld, aber Michael Rutschky gelang es immer wieder, mit seinen halbironisch zugespitzten Begriffen lange Diskussionen überflüssig zu machen. Die Formel Soziotop schaffte es sogar in den Duden, Rutschky hatte sie zusammen mit seiner 2010 verstorbenen Ehefrau Katharina entwickelt. Dabei ging es ihm keineswegs darum, Stichworte zu laufenden Debatten zu liefern, sich in der Art eines Großintellektuellen „einzumischen“ in die Scharmützel um Klimaschutz, Nation oder Identität. Er war einfach ein leidenschaftlicher Beobachter des Zeitgeistes, besonders dann, wenn es ins Slaptickhafte verrutschte.

Das Beispielhafte im scheinbar Abseitigen

Zum ersten Mal von Rutschky gehört hatte ich, als mir ein Kommilitone Anfang der neunziger Jahre von einer Zeitschrift mit dem verheißungsvollen Titel „Der Alltag“ vorschwärmte. Rutschky war ihr Herausgeber, ich besuchte ihn in seiner Kreuzberger Wohnung und bald darauf druckte er einen Text von mir, der von einem Schwimmbad in der Provinz handelte. Im scheinbar Abseitigen das Beispielhafte zu entdecken, das war die Methode Rutschky.

Seine Essays konnten von der Liege- und Sozialordnung im Kreuzberger Prinzenbad, der Rückkehr in die eigene Kinderwelt bei Reisen durchs „Beitrittsgebiet“ nach 1989 oder den Schauergeschichten der „Bild“-Zeitung erzählen. Aus der soziologischen Technik des teilnehmenden Beobachtens machte Rutschky eine Kunst. Eines seiner schönsten Bücher widmete er dem „Merkbuch“ seines Vaters, einem Taschenkalender, in dem der Angestellte einer Wirtschaftsprüferfirma seine Termine notiert hatte. Beiläufig weitet sich die Vatergeschichte zum Epochenpanorama der Nachkriegsjahre.

Rutschky machte Schule, er war ein großer Förderer. Als Redakteur der Zeitschriften „Merkur“ und „Transatlantik“, als Herausgeber des „Alltag“ half er, die Karrieren von Schriftstellern wie Rainald Goetz, Iris Hanika, David Wagner oder Stephan Wackwitz auf den Weg zu bringen. Seine Linksradikalität endete zwar bei der SPD, doch für die „taz“ schrieb er seit den frühen achtziger Jahren. Ohne Rutschky und seine Lust an der Pointe würde das deutsche Feuilleton heute dröger aussehen.

Er schrieb gegen die„Zeitgeistitis“ der Achtziger

Als „Herrenabend“ firmierten, obwohl dabei auch Frauen zugelassen waren, einige Jahre lang Rutschkys Treffen mit einem Kreis von Freunden, Kollegen und Fans in Berliner Gasthäusern. Gesprochen wurde über Lektüren und das Leben, einmal rief mich Rutschky nach einem Abend an, um mir den Titel eines gerade erschienenen Bandes mit Feuilletons von Siegfried Kracauer durchzugeben. Der Soziologe, Romancier und Filmtheoretiker Kracauer, Adornos Mitstreiter und Widerpart in der Frankfurter Schule, gehörte zu Rutschkys Hausgöttern. Lange plante Rutschky die Gründung einer Kracauer-Gesellschaft, die einen Preis für Essayistik vergeben sollte. Das Vorhaben scheiterte am Fehlen eines Geldgebers.

Michael Rutschky wurde 1943 in Berlin geboren und wuchs in der nordhessischen Kleinstadt Spangenberg auf. Er studierte Soziologie unter anderem bei Adorno und Habermas in Frankfurt und an der Freien Universität und promovierte mit einer literaturwissenschaftlichen Arbeit über die „Lektüre der Seele“ bei Freud. Seit er 1980 mit seinem Buch „Erfahrungshunger“, einem Essay über die von ideologischen Kämpfen verdunkelten siebziger Jahre, Aufsehen erregte, arbeitete er an einer sehr persönlichen Chronik der laufenden Ereignisse. Der Nachfolgeband „Wartezeit“ handelte von der „Zeitgeistitis“ der Achtziger.

Rutschky hat rund zwei Dutzend Bücher veröffentlicht, darunter ein Fotoalbum mit Schwarz-Weiß-Aufnahmen, die – so der Titel – „Auf Reisen“ entstanden. „Man sollte sich nicht allein auf Worte verlassen“, sagte er mal. Auf gewisse Weise setzte er als Meister der gezielten Abschweifung das Erbe seines Großvaters Max Missmann fort. Missmann hatte im Berlin der Kaiserzeit das „Photographische Institut für Architektur, Industrie und Illustration“ gegründet und mit seiner Plattenkamera ganze Straßenzüge der Vorkriegsmetropole dokumentiert.

Zwischen Literatur, Journalismus und Wissenschaft

Rutschkys Texte changieren zwischen Literatur, Journalismus und Wissenschaft, es fällt schwer, sie mit einem Begriff einzuordnen. Wie er sich selber bezeichnete? „Lieber gar nicht“, sagte er. Wissenschaftler? Das klang ihm zu theoretisch, und dafür fehlte ihm auch der Titel eines Professors. Schriftsteller? Dafür fühlte er sich nicht gut genug vernetzt im Literaturbetrieb, und „wenn man Schriftsteller sagt, wird man gleich nach dem letzten Roman gefragt“. Zuletzt brachte er die Bücher „Mitgeschrieben“ und „In die neue Zeit“ heraus, die Aufzeichnungen aus den achtziger und frühen neunziger Jahren versammeln. Von den nationalen Aufwallungen im Schicksalsjahr 1989 will der Kreuzberger Bohemien nichts wissen, am 9. November gehen seine Frau und er lieber demonstrativ früh ins Bett, statt sich den mit Champagner feiernden Patrioten an der Mauer anzuschließen. Ein paar Wochen später, als Katrin und er durch das gerade wieder geöffnete Brandenburger Tor laufen, ist er dann plötzlich doch gerührt.

Michael Rutschky ist nach langer Krankheit in der Nacht von Samstag auf Sonntag in Berlin gestorben. Er wurde 74 Jahre alt.

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