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Kultur - 19.06.2019

Herzschläge im Hinterhof

Pollesch, Wilson und Ausflüge an die Peripherie: Die ersten Wiener Festwochen unter der Leitung von Christophe Slagmuylder.

Radikal. Szene aus Angélica Liddells „The Scarlet Letter“.

„Ich bin nicht Jesus, der kommt und alles wieder gutmacht“, verlautbarte Christophe Slagmuylder, der Intendant vor dem Beginn der Wiener Festwochen. Im Juni 2018 war der Vertrag seines Vorgängers Tomas Zierhofer-Kin vorzeitig aufgelöst worden, da der Ruf des traditionsreichen Festivals durch künstlerischen Qualitäts- und radikalen Publikumsschwund auf dem Spiel stand. Bereits seit 2014 befanden sich die Einnahmen der Wiener Festwochen im steilen Sinkflug, schrumpften bis 2018 um satte 61 Prozent.

Mit der Ernennung des Belgiers Slagmuylder setzte die Wiener Kulturstadträtin Veronica Kaup-Hasler auf die genreübergreifende, der Internationalität verpflichteten Tradition belgischer Kuratorenkunst. Der 52-jährige Retter in der Not war seit 2002 im Programmteam des Kunstenfestivaldesarts in Brüssel, dessen Leitung er 2007 übernahm. Obwohl Slagmuylder nur dreieinhalb Monate Zeit für die Programmplanung hatte, zeigte bereits seine Antrittssaison mit 45 Produktionen ein eigenständiges Profil: ein multidisziplinäres, generationenübergreifendes und gesellschaftskritisches Programm, das verschiedenste Problemzonen unserer Gegenwart beleuchtete.

Radikaler Widerstand

Um langfristig ein Stadtfestival in unterschiedlichsten Bezirken zu etablieren, starteten die Wiener Festwochen erstmals in der Peripherie, im wachstumsstärksten Bezirk Donaustadt. Den symbolträchtigen Auftakt machten die Herzschläge der Einwohner des Alfred-Klinkan-Hofs, die Anna Witt für „Beat House Donaustadt“ mit einem mobilen Ultraschallgerät aufgezeichnet hatte, um sie dann über die Stereoanlagen der Hausgemeinschaft in den Innenhof zu übertragen. Ein leider etwas voyeuristisches Setting ohne tatsächliche soziale Interaktion, für ein elitäres Publikum, das die Bewohner auf ihren Balkonen beobachtete.

Auf radikale Weise leistet die Argentinierin Angélica Liddell gesellschaftskritischen Widerstand. Dass tiefgreifender Sexismus in den sozialen Strukturen aufzuspüren ist, vermittelte sie kraftvoll in „The Scarlet Letter“. Nathaniel Hawthornes Roman „Der scharlachrote Buchstabe“ von 1850 und dessen Kritik an der Frauenfeindlichkeit seiner Zeit überhöhte Liddell mit nackten Tänzern und radikaler Selbstentblößung provokant.

Subtil aufklärend gelang Romeo Castellucci mit „La vita nuova“ ein eindringlich-rätselhaftes Bildertheater, das in seiner Ritualisierung an eine archaische Messe gemahnte und gerade durch diese Verfremdung eine Brücke in unsere Gegenwart schlug. Eine hochpolitische Performance vor etwa dreißig mit Stoff bedeckten Autos in den Wiener Gösserhallen, worin fünf Schwarzafrikaner in weißen Gewändern mit mannigfaltigen Symbolen gleichsam als sprachlose Priester die innere Wüste kapitalistischer Verheerungen beschwören.

Das Ringen isolierter Menschen

Eine ebenso intensive Selbstbefragung durch den präzisen Einsatz szenischer Mittel initiierte „This Song Father Used to Sing (Three Days in May)“ des thailändischen Regisseurs Wichaya Artamat. Ein stilles Kammerspiel über ein Geschwisterpaar, das sich über mehrere Jahre in der Wohnung des verstorbenen Vaters trifft und dabei einen Emanzipationsprozess durchläuft, der Nähe schafft und die Bereitschaft zu politischem Handeln. Um die Sehnsucht nach gelungener Kommunikation drehte sich auch die musiktheatrale Uraufführung „Narziss und Echo“ von David Marton nach den „Metamorphosen“ des Ovid. Im raffinierten Bühnenbild von Christian Friedländer aus fünf bunten, beweglichen Kuben vermittelte er das tragische Ringen isolierter Menschen, denen die improvisierte Musik dreier Jazzmusiker gleichsam den Weg einer Annäherung aufzeigt.

Die Auseinandersetzung mit der eigenen Identität thematisierte auch „Voicelessness“ der Iranerin Azade Shahmiri, deren Protagonistin mittels zukünftiger Audiotechnologien mit ihrer im Koma liegenden Mutter spricht, um den Mord an ihrem Großvater aufzuklären. Eine auf Stimmen und Videobilder konzentrierte, tief bewegende Arbeit, die das Publikum subtil mit sich selbst konfrontierte.

Die kleinen Arbeiten brachten die Festwochen zum Pulsieren

Dies gelang auch mit „Borborygmus“ des multidisziplinären Künstlers Rabih Mroué, worin die Verdauungsgeräusche des Magens zur Metapher für Vergänglichkeit wurden in einer unprätentiösen, von zunehmender Verzweiflung erfüllten Performance über die traumatisierenden Gewalterfahrungen im libanesischen Bürgerkrieg. Im Gegensatz dazu überzeugte „Orest in Mossul“ vom NTGent wenig: Milo Rau verquickte die fragmentierte Bühnenerzählung der „Orestie“ des Aischylos mit dokumentarischem Filmmaterial über die Theaterproben mit irakischen Schauspielern in der vom IS geknechteten Stadt Mossul betroffenheitspathetisch, ohne dafür eine überzeugende Form zu finden.

Allzu oberflächlich geriet die Biografie der schottischen Königin Maria Stuart in „Mary Said What She Said“ von Darryl Pinckney, die Robert Wilson als Solo mit Isabelle Huppert inszenierte. Und selbst René Pollesch fand in der Uraufführung seiner „Deponie Highfield“ trotz Starbesetzung und sieben lebensechter Lipizzaner nicht zu einer überzeugend szenischen Energie.

Es waren die vermeintlich kleinen, formal durchdachten und mit Dringlichkeit erfüllten Arbeiten, die in der ersten Saison Christophe Slagmuylders die Wiener Festwochen wieder zum Pulsieren brachten.

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