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Kultur - 06.12.2018

Geld oder Überleben

Vier Frauen planen einen Coup, nach einer Idee ihrer ermordeten Gangster-Männer: Steve McQueens Thriller „Widows“ über Chicago – und den Zustand Amerikas.

Doppelleben. Veronica (Viola Davis) arbeitet in der Schulbehörde – aber nicht nur. Und Cynthia Erivo als Belle ist eine echte…

Wer verstehen will, was der Demografie Amerikas in den kommenden Jahren blüht, muss sich nur an der Southside von Chicago umsehen. Hier befindet sich das weiße Amerika klar in der Minderheit. Afroamerikaner machen 80 Prozent der Bevölkerung aus, in kaum einer anderen Metropole ist die Mordrate so hoch wie im Süden Chicagos. Es offenbart sich auch der ganze Widerspruch der sozialen Umverteilung: Manchmal trennen nur ein paar Straßenzüge die afroamerikanischen Wohngegenden von den Stadtvillen.

In „Widows – Tödliche Witwen“ von dem britischen Regisseur Steve McQueen gibt es eine kluge Plansequenz, die die Demografie der Stadt mit dokumentarischer Präzision vermisst. Der Lokalpolitiker Jack Mulligan (Colin Farrell) hat einen Wahlkampfauftritt, um für das von ihm ins Leben gerufene Projekt „Minority Women Owned Work“ zu werben. M-WOW unterstützt die Bewohnerinnen der Southside, damit sie in ihren Vierteln Geschäfte eröffnen können. Nach seiner Ansprache steigt er in die Limousine und lässt sich ins Hauptquartier – außerhalb seines schwarzen Wahlkreises – chauffieren. Die Kamera registriert nebenbei, wie sich die Straßenzüge verändern: die Läden, die Häuser, die Grünflächen – die Hautfarbe der Menschen. Die Fahrt dauert keine zwei Minuten.

In der Figur Jack Mulligans laufen in „Widows“ alle Handlungsstränge zusammen, die Regisseur McQueen in etwas über zwei Stunden auslegt. Der Karrierepolitiker gehört zu einer Dynastie, die seit Generationen die Geschicke im 18. Wahlbezirk lenkt. Doch diesmal hat er ein Problem. Weil Jack einem dubiosen Deal im Rathaus nicht zustimmen wollte, hat der Bürgermeister die Grenzen des Wahlbezirks neu gezogen, zugunsten seines afroamerikanischen Kontrahenten Jamal Manning (Brian Tyree Henry). Gewöhnlich eine unter Republikanern beliebte Taktik, um schwarze Wählerstimmen zu unterdrücken. Jamal stammt von der Southside, und der Griff nach der Macht bedeutet für ihn die Chance, seine krimininellen Geschäfte zu legalisieren. Der Junge aus dem „Ghetto“ will an den sauberen, schmutzigen Geschäften der amerikanischen Politik partizipieren.

„Chicago ist die amerikanische Metropole unserer Zeit“, erklärt Steve McQueen im Interview, „hier konzentrieren sich alle großen Themen: Rassismus, Korruption, Politik, Religion, Geschlechterverhältnisse. Ich sehe mir die Stadt wie unter dem Mikroskop an und drehe es dann um: verwandele es in ein Teleskop, durch das ich auf den Rest der Welt blicke.”

Es ist nicht das erste Mal, das sich der zwischen London und Amsterdam pendelnde Oscar-Preisträger mit Amerika beschäftigt. „12 Years a Slave“ (2013) basiert auf den Memoiren von Solomon Northup, der Mitte des 19. Jahrhunderts als „freier Schwarzer“ im Norden der USA lebte und dort von Sklavenhändlern entführt wurde. Der Nachfolger „Widows“ ist nun genau die Sorte Kino, nach der Hollywood lechzt: ein Genrefilm mit gesellschaftlichem Bewusstsein und einer Starbesetzung, die in Hinsicht auf Diversität und Charisma zum Besten gehört, was das Kinojahr zu bieten hat.

Denn auch wenn die Politik stets im Hintergrund mitschwingt, gehört McQueens Film den titelgebenden Witwen. Veronica (Viola Davis), Linda (Michelle Rodriguez) und Alice (Elizabeth Debicki) haben ihre Ehemänner bei einem Überfall verloren. Zwei Millionen Dollar erbeuteten die Gangster aus der Wahlkampfkasse Jamal Mannings. Doch als die Polizei das Versteck stürmt, fliegt der Fluchtwagen mitsamt den Männern und dem Geld in die Luft.

Die Dialoge stammen von Bestsellerautorin Gillian Flynn

Sie lassen ihre Frauen mittellos zurück. Veronica arbeitet zwar für die Schulbehörde, doch Jamal fordert die zwei Millionen ein, die Harry (Liam Neeson) ihm gestohlen hat – und setzt seinen sadistischen Bruder Jatemme (Daniel Kaluuya) auf sie an. Linda verliert ihren Schönheitssalon an einen Kredithai, Alice bietet ihre Gesellschaft zahlungskräftigen Kunden an. Entschlossen trommelt Veronica die Witwen zusammen, denn sie ist im Besitz der Pläne für den nächsten Coup ihrer toten Männer. Und sie überzeugt die widerwilligen Frauen davon, den geplanten Überfall selbst durchzuziehen. Und warum – außer natürlich wegen des schönen Geldes? Veronica: „Niemand traut uns zu, dass wir dazu die Eier haben.“

Das klingt zunächst nach herrlichem Crime Pulp. Aber McQueen hat in der Bestsellerautorin Gillian Flynn („Gone Girl“) eine Partnerin gefunden, die über eine spitze Feder für unverwechselbare weibliche Stimmen verfügt. Die Dynamik zwischen den Frauen, die auch ökonomisch aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Schichten kommen, ist der heimliche Motor von „Widows“. McQueen versteht Diversität nicht als Selbstzweck, ihm geht es um Realismus. Eine Afroamerikanerin mit Designer-Loft, eine Latina und eine polnische Immigrantin: „So sieht Chicago heute eben aus.“

„Widows“ würde besser als Mini-Serie funktionieren

Die unterschiedlichen Lebensumstände der Frauen verdichtet Flynn in pointierten Dialogen und Konfrontationen. In einer Szene entgegnet Belle (die Entdeckung des Jahres: Cynthia Erivo), die sich als alleinerziehende Mutter mit zwei Jobs über Wasser hält und spät zu dem Trio hinzustößt, der herrischen Veronica – verheiratet mit einem weißen Kriminellen mit Kontakten in die Politik–, ihr gegenüber gefälligst einen anderen Ton anzuschlagen. Zwei Generationen von Afroamerikanerinnen, zwei Lebensentwürfe. Flynn beschreibt in wenigen Sätzen, dass soziale Privilegien auch innerhalb gesellschaftlicher „Minderheiten“ existieren, die meist als homogen wahrgenommen werden.

Dennoch ist „Widows“ streckenweise frustrierend, weil es McQueen selten gelingt, die Beziehung von Kriminalität, Politik und den Menschen der Stadt wirklich nuanciert zu erzählen. Polizeigewalt etwa kommt – fast alibihaft – nur in einer Rückblende vor, im Hintergrund hängt ein Obama-Plakat. „Hope“ steht da, eine trügerische Hoffnung. „Widows“ würde besser als Miniserie im Stil vom „The Wire“ funktionieren, die die Stadt Baltimore und ihre Institutionen in der ganzen Tiefe durchleuchtet. Das soziale Gewebe Amerikas durchdringt „Widows“ eigentlich nur, wenn die toughen Witwen das letzte Wort haben.

In 20 Berliner Kinos, OV/OmU: 9 Kinos

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