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Kultur - 11.06.2019

„Frauen müssen die Macht an sich verändern“

Ein Gespräch mit der Schriftstellerin Jagoda Marinic über #MeToo, den Feminismus in Deutschland, den USA und neue weibliche Helden.

Jagoda Marinic, 42

Jagoda Marinic, die 1977 im schwäbischen Waiblingen geboren wurde, ist Kulturmanagerin, Schriftstellerin und Kolumnistin für die „SZ“, die „taz“ und die „New York Times“. Sie schreibt Erzählungen, Romane und Sachbücher. 2016 erschien von ihr das Buch „Made in Germany. Was ist deutsch in Deutschland?“. Ihr neues Buch heißt „Sheroes. Neue Held*innen braucht das Land“ und ist bei S. Fischer erschienen.

Frau Marinic, Sie leiten in Heidelberg das Interkulturelle Zentrum und haben sich in Büchern und Texten viel mit Integration und Deutschland als Einwanderungsland beschäftigt. Wie kam es jetzt zu „Sheroes“, den weiblichen Helden, zum Feminismus?

Jagoda Marinik: Es begann bei mir mit dem Feminismus vor sieben Jahren, als ich bei der Stadt Heidelberg anfing zu arbeiten, ich sollte dort zunächst das Konzept für das Interkulturelle Zentrum erstellen. Mir fiel auf, dass ich, gerade auf den Führungsebenen, in männlich dominierte Strukturen geraten war, in Ministerien, Staatssekretariate, Ämter. Nicht nur Seehofers Haus ist ein All-Men-Ministerium. Oder bei beruflichen Abendterminen, da saßen zu 80 Prozent Männer. Als Autorin im Literaturbetrieb war mir das egal, vielleicht auch nicht so aufgefallen, weil man nicht täglich in Strukturen arbeitet.

Und dann kamen die Weinstein-Enthüllungen und #MeToo dazu?

Nicht zu vergessen: die Wahl von Trump. Was hat der Mann für ein Frauenbild! Und wird trotzdem Präsident. Das hat mich schockiert. Wo stehen wir da eigentlich als Frauen? Braucht es da nicht eine Neuerfindung des Feminismus? #MeToo ist letztlich ja nur ein Versuch von Frauen, sich zu artikulieren, neue Wege zu finden.

Was verstehen Sie unter einer Neuerfindung des Feminismus? Sie schreiben in Ihrem Buch, dass ihre Generation in einem „Ewige-Mädchen-Modus“ auftrete, sie selbst mit dem Label „Neue Deutsche Mädchen“ nichts anfangen konnten?

Ich bin damals mit diesem Label nicht klargekommen. Das war die Abgrenzung von Alice Schwarzer, das fand ich gut – aber ich wollte eine Frau werden, eine Frau sein, nicht ein Mädchen. Jetzt werde ich kritisiert dafür, mich gegen diesen deutschen Mädchen-Feminismus auszusprechen, weil der Feminismus so ein hart umkämpftes Feld ist, und klar: Auch Mädchen sind stark, mutig, selbstbewusst. Aber ich meine eben erwachsene Frauen. Neuerfindung heißt ja nicht, alles Alte muss über Bord. Nur geht es heute oft um subtilere Formen der Geschlechterungerechtigkeit, die Herausforderung ist eine neue, erfordert eine andere Art Dringlichkeit. Früher gab es die demokratischen Ur-Ungerechtigkeiten wie das fehlende Wahlrecht, die Erlaubnis des Mannes, um zu arbeiten etc. Heute sind die Missstände feiner: Eine Frau bekommt das zweite Kind und plötzlich ist sie wieder in der alten Rolle, bleibt daheim, verzichtet auf ihre Karriere – und der Mann profitiert von den Familienstrukturen.

Sie schreiben, dass es beim Feminismus mehr um Geschichten gehen müsse, weniger um Diskurse.

Wir haben zahlreiche akademische Debatten, Gender-Studies-Einrichtungen oder Stiftungen, die sich mit Frauenrechten und Ungleichheiten befassen, die Zahlen liegen auf dem Tisch, wir diskutieren viel auf sachlicher Ebene. Geschichten brauchen wir als Möglichkeitsräume und Motor. Kein Mensch ändert sein Verhalten, weil er denkt: ich will dann zu den 13 Prozent gehören. Jeder braucht Impulse: Michelle Obama geht beispielsweise an Schulen und erzählt Geschichten, zeigt Wege auf, die den Mädchen auch offenstehen könnten. Sheroes sind für mich jene Menschen, die gesellschaftliche Kämpfe hinter sich haben und davon berichten, damit andere lernen können.

Nur erzeugen Geschichten allein noch keinen Wandel.

Doch. Zunächst geht es überhaupt darum, zu sprechen, den öffentlichen Raum zu erobern. Im deutschen öffentlichen Leben ist der redende Mann die Normalität, der denkende, das Zeitgeschehen einordnende Mann ist die Regel. Sehen Sie doch mal die Maischberger-Sendung von vergangener Woche: vier Männer, eine Frau! Das finde ich unglaublich. Frauen verschwinden aus den öffentlichen Sphären: In Baden-Württemberg zum Beispiel sitzen nur 25 Prozent Frauen im Landesparlament. Es waren mal mehr. Zu den hohen Zeiten der Frauenbewegung gab es in den großen Städten des Landes sogar fünf Bürgermeisterinnen. Heute sitzen da wieder Männer. In den Kommunen fängt es ja an.

Deutschland habe die #MeToo-Debatte verschlafen, schreiben Sie in „Sheroes“. Ist die hier nicht intensivst geführt worden?

Alle Journalisten behaupten das. Aber sagen Sie mir doch einmal fünf Männer, die hierzulande gestürzt worden sind? #MeToo hat damit zu tun, dass eine sexuelle Straftat auch Folgen nach sich zieht. Nicht nur drüber reden und sich anhören, wie schlimm es ist. Es geht um Haftbarkeit, auch ohne dass es Gerichtsbeschlüsse gibt, weil bestimmtes Verhalten gesellschaftlich nicht tragbar ist. Wenn sechs, sieben Frauen glaubwürdig davon berichten, da habe ein Mann seine Position missbraucht, dann müsste dieser Mann sofort seinen Job verlieren. Über das Strafmaß muss später gerichtlich entschieden werden. In den USA waren es 250 Männer, die aufgrund von #MeToo ihre Führungspositionen verloren haben und durch Frauen ersetzt wurden, unter der Prämisse: Nun muss sich was ändern. Hierzulande eben nicht.

Es gab die Fälle Dieter Wedel und Gebhard Henke. Henke verlor seinen Job.

Ja. Weil Charlotte Roche und ein paar andere Frauen ihre Geschichte unter Nennung ihres Namens erzählt haben. Doch folgte sofort, wie ich finde, ein schockierender Brief von anderen Schauspielerinnen, der gewissermaßen gegen Roche gerichtet war. Frauen, die Henke verteidigten und ihre ausschließlich guten Erfahrungen mit ihm schilderten. Nur schließt das eine das andere, die Missbrauchsfälle, ja nicht aus. #MeToo lebt von Frauensolidarität. Wie gehen wir als Kolleginnen damit um, wenn eine Frau so etwas erlebt? Viele Frauen bemitleiden ja reflexartig die Männer, wenn diese beschuldigt werden, „Himpathy“ wird das genannt. Dabei kommen viele davon, auch in den USA: Schauen Sie sich den Fall Kavanaugh und Christine Blasey Ford an. Er hat seinen Sitz im Obersten Gerichtshof. Seine Anhänger hingegen drohen und verfolgen bis heute Ford so sehr, dass diese mehrfach umziehen musste.

Nun ist es auch schwer, Geschichten wie diese in der Öffentlichkeit zu erzählen.

Ganz sicher. Aber auch, weil es immer diese Tendenz zur Skepsis gibt, dieses Hinterfragen der Opfer. Der sexuelle Gewaltakt wird bezweifelt, es wird das Verhalten der Frau diskutiert, immer diese Wenns: Wenn du dies und jenes nicht gemacht hättest, wäre nichts passiert. Immer werden die Opfer bezichtigt, sich falsch verhalten zu haben. Und dann dieser perverse Dreh, zur Autonomie der Frau gehöre es, „Nein“ zu sagen! Der Vorgesetzte ist ein Sexist, aber du bist als Frau bitte so autonom, deinen Job an den Nagel zu hängen. Du musst ja nicht Schauspielerin werden, wenn du die Spielregeln nicht akzeptierst… Eine krasse Umdrehung des Unrechts.

#MeToo ist Ihrer Meinung nach also in Deutschland ganz ohne Folgen geblieben?

Reale Folgen? Gab es kaum, auch bei uns hätten mindestens 50 Männer ihre Posten räumen müssen, wenn es #MeToo gegeben hätte. Und wenn es die Öffentlich-Rechtlichen nach #MeToo nicht schaffen, Talkshows gleichberechtigt zu besetzen, ist nicht viel angekommen, das ist im gesamten Medienbereich so. Problemlösungsstrukturen gibt es, die schaffen wir immer sofort, Kommissionen, Gleichstellungsbeauftragte etc. und dann bewegt sich nicht viel weiter, Konsequenzen bleiben aus. Schauen Sie mal bei CNN! Wieviele sogenannte Expertinnen es dort gibt. Da diskutieren einfach mal so vier Frauen mit sichtbarem Migrationshintergrund die Politik von Trump. In Spanien habe ich nach den Wahlen eine Frau mit Kopftuch im TV gesehen, die die Ergebnisse analysiert hat. Aber in Deutschland? Wir sorgen nicht für Diversität.

Was würde sich mit mehr Frauen in Medien und überhaupt in der Gesellschaft ändern? Sind Institutionen nicht stets stärker?

Wir dürfen wirklich nicht so tun, als wäre das ein Automatismus. Die Frage ist: Bist du stark genug, die Macht zu verändern? Oder verändert die Macht dich? Es gibt genug Frauen, die patriarchale Strukturen stützen, weil sie da „oben“ die Kräfte sehen, die es ihnen einfacher machen. Wenn Frauen an die Macht kommen, sollten sie die Macht an sich verändern.

Und wie soll das vonstatten gehen?

Frauen haben die Möglichkeit, Machtstrukturen infrage zu stellen, sie können flachere Hierarchien schaffen. Oder, so wie in Skandinavien, Regeln einführen, dass alle wichtigen Termine und Besprechungen in die Öffnungszeiten der Kindergärten gelegt werden müssen. Der Druck darf im Fall einer alleinerziehenden Mutter nicht an diese weitergegeben werden, sondern das Arbeitsumfeld hat sich dem Familienmodell anzupassen.

Ihnen geht es um einen Feminismus, der die Männer miteinbezieht.

Ja, auch Männer profitieren vom Feminismus. Es geht um Deformierungen in Familien, in Führungspositionen, in Machtstrukturen. Männer leiden da genauso drunter. Viele Männer haben keine Lust mehr auf die Zwangsjacken von früher, auch Männer wollen mehr Zeit mit ihren Familien, beispielsweise.

Es gibt keine Heldin aus Deutschland, keine Sheroe. Sie erwähnen zwar Roche und Merkel, aber ihre Vorbilder sind alle aus den USA, Beyoncé, Michelle Obama oder die Richterin Ginsburg.

Ich bin überzeugt, dass wir mehr aus unserer nationalen Blase rausschauen müssen. Wir verheddern uns gern, diskutieren lieber fünf Jahre, ob die Listen jetzt paritätisch besetzt werden sollen oder nicht. Aber es geht doch um Ergebnisse! In den USA gab es nach Trumps Wahl sofort eine Bewegung. Viele Frauen haben sich gegen den Lauf der Geschichte gestellt, haben versucht, eine korrigierende Kraft zu sein, haben deutlich gemacht, dass die USA unter Trump nicht ihre Gegenwart repräsentieren. Jetzt sitzen sie im Repräsentantenhaus. Ich finde, Trump hat echt für eine Sternstunde des Feminismus gesorgt. Die US-Frauen haben eine unwahrscheinliche Sichtbarkeit, eine richtige Wirkmacht.

Wie feministisch sind Beyoncé, die Influencerinnen?

Bei einer Lesung wurde ich gefragt: Ist Kim Kardashian eine Sheroe? Ich kann mit deren Werten wenig anfangen. Aber wenn ich will, dass Frauen sich verwirklichen, muss ich akzeptieren, dass diese Frauen versuchen, das kapitalistische System für sich selbst nutzbar zu machen, sich selbst zu inszenieren. Früher inszenierten Männer die Frauen, in Hollywood etwa Weinstein. Jetzt gibt es Beyoncé, Ariana Grande, Rihanna. Das ist ambivalent, weil es ohne maximalen Körpereinsatz nicht mehr zu schaffen ist. Auch die Influencerinnen mit ihren Mode- und Kosmetiktipps betreiben eine Form von medialer Inszenierung, auch das ist zutiefst kapitalistisch. Ich finde das schon creepy, wenn das bis in den privatesten Intimbereich geht. Doch sie ermächtigen sich des kapitalistischen Systems, statt dass sich andere an ihnen bereichern. Deshalb ist es wichtig, wenn andere, jüngere Frauen sehen, dass es im öffentlichen Raum auch Frauen gibt, die Politik machen, Organisationen gründen, Macht, Intellekt verkörpern.

Sie sagen, dem Feminismus in Deutschland fehle es an Wucht. Gibt es hierzulande zu viele feministische Einzelkämpferinnen?

Mir geht es um Anknüpfungspunkte, das meine ich mit Wucht. Schulterschlüsse. Es gibt seltsame Abgrenzungen, zum Beispiel von den progressiven Frauengruppen. Die finden mein Buch und das von der US-Autorin Chimamanda Ngozi Adichie fast antifeministisch. Wir seien nicht intersektional, nicht inklusiv, weil es nicht primär über den soziologischen Sprachgebrauch geht, sondern vielmehr um Geschichten. Sie fordern Diversität, schließen aber jene aus, die ihre Form von Diversität nicht exakt so begleiten. Und sie wollen die Männer nicht mitnehmen. Aber wie will ich Wandel herbeiführen, wenn ich die andere Hälfte der Gesellschaft ausschließe? Macht deformiert geschlechterübergreifend. Aber schon „Nicht alle Männer“ ist zum Hashtag geworden, der vermeintlich verharmlosenden Feminismus beschimpft. Wie soll da eine breite, wirkmächtige Bewegung entstehen?

Gibt es Feministinnen nicht primär in urbanen Gesellschaftsschichten? Wie ist es in Kleinstädten, auf dem Land ?

Deswegen habe ich ja versucht, ein Buch zu schreiben, das anders über Feminismus redet, mehr in die Breite geht, mit Beyoncé als Sheroe, mit den sozialen Medien, dem Lipstick-Feminismus. Der Schwarzer-Feminismus hat ja – trotz seiner Erfolge – was Uncooles. Ich suche nach Erzählarten des Feminismus, die auch jungen Frauen ermöglichen, sich darin zu finden, die Männer ins Gespräch über Feminismus bringen. Aber dann kommen wieder jene Feministinnen, die sagen, die Marinik gendert nicht durchgehend, spricht nicht von „cis-hetero“. Aber ist es nicht wichtiger, darüber nachzudenken, wer die Schulsachen für die Kinder kauft oder weiß, wo deren Impfpässe sind – nämlich immer die Frauen, selten Männer! –, als sich an Gendersternchen aufzureiben?

Es fällt auf, dass es in ihrem Buch keinen Satz über das Gendern in der Sprache gibt.

Ich bin eben nicht überzeugt davon, dass Sprache alle Missstände und Ungleichheiten austarieren und integrieren kann. Wir machen das doch längst: Jede Kommune hat Frauenbeauftragte, jede Stadt gendert seit Jahrzehnten – haben wir mehr Bürgermeisterinnen deswegen? Als Autorin weiß ich wirklich nicht, wie sinnvoll es ist, wenn ich einen Roman schreibe und dabei dauernd überlege, jetzt auch ja alle Minderheiten sprachlich zu repräsentieren. Das ist kaum möglich. Die Sprache ist für mich ein Stellvertreterkampf und leidet nicht wenig darunter. Dieser Kampf hängt auch viele Menschen ab, die für die Sache selbst zu gewinnen wären. Grammatik kann nicht die Ungerechtigkeiten dieser Welt aushebeln. Ich will die Geschichten erzählt wissen. Und ich will neue erzählen können, von Menschen, die, gleich welchen Geschlechts, Dinge tun, die wir noch nicht gesehen haben.

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