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Kultur - 11.12.2018

Exzesse auf dem Tanzboden

Körper und Sound in höchster Intensität: Gaspar Noés „Climax“ über eine Tanztruppe im unfreiwilligen LSD-Rausch.

Choreografie der Gewalt: Die Körper der Tänzerinnen und Tänzer verknoten sich im besinnungslosen Rausch.

Ein Film, der stolz ist, französisch zu sein. Dieses Bekenntnis am Anfang von „Climax“, ein brüllender Schriftzug dem Publikum entgegengeschleudert, ist vielleicht die größte Provokation des notorischen Skandalfilmers Gaspar Noé („Love“). Die 21 Darstellerinnen und Darsteller seines Horror-Musicals stammen aus allen Gesellschaftsschichten: arabischstämmige Jugendliche zweiter und dritter Generation, junge Menschen afrikanischer Herkunft, schwul, hetero. Frankreich bildet sich auf seinen Multikulturalismus ja einiges ein – wenn gerade mal wieder Fußball-Weltmeisterschaft ist. Dann sind sie alle Franzosen. 1998 gewannen die Einwandererkinder unter dem Motto „Blanc, Beurre, Noir“ erstmals den WM-Titel, da war die Kolonialnation mit ihrer blutigen Geschichte versöhnt. Ein paar Jahre später brannten die Banlieues. Doch der Berufsjugendliche und -provokateur Noé liebt diese Kids bedingungslos. Sein fünfter Spielfilm ist sein Bekenntnis, dass sich ihre grazilen, sehnigen, wendigen Körper nicht so leicht domestizieren lassen.

Ein Stapel VHS-Kassetten als Filmzitate

Lou, Gazelle, Taylor, Omar, Alia, Jennifer, Cyborg, Rocco und wie sie alle heißen leben für den Tanz. Sie sprechen für die Star-Choreografin Emmanuelle (Claude Gajan Maull) vor, die mit ihrer Troupe zu einer Tour durch die USA aufbricht. Am Anfang von „Climax“ laufen Ausschnitte aus ihren Bewerbungsvideos auf einem Röhrenfernseher, gerahmt von einem hübsch kuratierten Ensemble alter VHS-Kassetten – es ist 1996. Die Titel lassen erahnen, welche Wendung die Abschlussparty in einer verlassenen Schulaula am Vorabend der US-Tour nehmen wird. George Romeros „Zombie“ liegt auf dem Stapel, Andrzej Zulawskis Körperhorror „Possession“, „Suspiria“ von Dario Argento, ein anderer Klassiker, in dem Tanz in Terror umschlägt, und natürlich Pasolinis „Salò“. Wie belastbar ist der innere Zusammenhalt der im ständigen Konkurrenzkampf um die besten Moves stehenden Zweckgemeinschaft?

„Climax“ besteht im Grunde aus nicht mehr als zwei langen Choreografien von Nina McNeely, gedreht in ungeschnittenen Einstellungen, zum frenetischen DJ-Set von Kiddie Smile und – der Klimax! – einem albtraumhaften, blutigen Freestyle-Battle in der letzten halben Stunde. Da ist der zivilisatorische Firnis längst abgewetzt, ein paar Tropfen LSD in der Sangría-Bowle haben schon gereicht. Die Bewegungen werden unkontrollierter, aggressiver, Benoit Debies Kamera taumelt wie narkotisiert über den Köpfen der Tanzenden, schiebt sich durch die schummerigen Gänge. Die Choreografie zerfällt sukzessive – und mit ihr die soziale Ordnung. Produktionsleiterin Selva (Sofia Boutella) führt im Drogenrausch einen Veitstanz vor einer Herbstwaldtapete auf. Auf dem Höhepunkt der selbstzerstörerischen Ekstase, zum sägenden Industrialbass von Daft Punks „Rollin’ & Scratchin’“, machen sich Panik und Paranoia breit: die Jungen und Mädchen schreien sich über hämmernde Beats an und fallen schließlich hemmungslos übereinander her. Eine der Tänzerinnen tritt wie von Sinnen einem schwangeren Ensemblemitglied in den Bauch.

Keine Handlung, nur Körper und Sounds

Gaspar Noé hat sich mit solchen kalkulierten Exzessen einen Namen gemacht, aber „Climax“ ist sein bisher kontrolliertester Film: ohne Handlung und Figurenpsychologie, wenig Schnitte, nur Körper und Sound in höchster Intensität. Die reine Lehre des Kinos. Seltsamerweise wirkt Noés Selbststilisierung als Enfant Terrible des französischen Kinos (man beginnt sich zu fragen, ob auch sein Sexismus nur Pose ist) in „Climax“ fast wie eine Liebeserklärung an seine jungen, schönen Darsteller. Dass die französische Gesellschaft auseinanderdriftet, kann man gerade täglich in den Nachrichten verfolgen. Noé zeigt, wie wenig dazu nötig ist. Man muss dahinter keine politische Botschaft vermuten, aber „Climax“ ist sein erster Film, der mit der Gegenwart korrespondiert. Auf den Blutrausch folgt das böse Erwachen.

In 11 Berliner Kinos (alle OmU)

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