Home Kultur „Er hatte so viel Musik in sich“
Kultur - 06.07.2019

„Er hatte so viel Musik in sich“

Gastspiel der „West Side Story“ an der Staatsoper: Alexander Bernstein, Sohn von Leonard Bernstein, über zeitlose Stoffe, das Familienleben in New York und die vier großen Begabungen seines Vaters.

Leonard Bernstein in den 50er Jahren – die Zeit, in der er „West Side Story“ schrieb.

Fingerschnippen und Feuerleitern, dazu Hits wie „Maria“ und „Tonight“: Vom 6. bis 14. Juli ist in der Berliner Staatsoper „West Side Story“ zu sehen, eine Kooperation mit der Opera Australia in einer Inszenierung von Joey McKneely, der Jerome Robbins’ Originalchoreografien verwendet. Alexander Bernstein, geboren 1955 in New York, ist das zweite der drei Kinder von Leonard Bernstein. Er war Schauspieler, Lehrer für die Klassen 6 bis 8 und ist Präsident von Artful Learning Inc. sowie Gründungsvorsitzender des Leonard Bernstein Center For Learning.

Mister Bernstein, „West Side Story“ ist das berühmteste Musical der Welt. Warum?

Das hat mehrere Gründe. Die Konstellation war außerordentlich: Vier Künstler – Jerome Robbins, Arthur Laurents, Stephen Sondheim und Leonard Bernstein – arbeiten zusammen, auf dem Gipfel ihrer Fähigkeiten und ihrer Karrieren, alle waren sehr großzügig im Umgang miteinander. Sie kämpften für das, was ihnen wichtig war. Die Story selbst ist zeitlos. Natürlich wegen des Romeo-und-Julia-Stoffs, aber es geht um mehr, um Inkompetenz, um Hass, die leider bis heute existieren. Deshalb ist „West Side Story“ immer noch so relevant. Zufälligerweise ist es auch fantastische Musik. Ich konnte sie gerade wieder hören, Steven Spielberg plant eine Verfilmung, zur Zeit wird der Soundtrack aufgenommen. Grandios.

Warum dreht Spielberg diesen Film jetzt? „West Side Story“ kam 1957 heraus, vor über einem halben Jahrhundert.

Er sagt, er wollte es sein ganzes Leben lang machen, jetzt habe er endlich Gelegenheit dazu. Natürlich haben wir sofort zugesagt. Es ist aufregend.

Würden Sie zustimmen, dass das Genre Musical mit „West Side Story“ überhaupt erst geboren wurde?

Oh nein. „Musical Theater“ hat sich seit mindestens einem Jahrhundert entwickelt, es gab so viele Vorläufer: die Rodgers & Hammerstein-Musicals, Cole Porter. Aber „West Side Story“ war in vielerlei Hinsicht bahnbrechend: durch den Einsatz von symphonischer Musik, von Leitmotiven und Tanz.

Vorher wurde in Musicals nicht getanzt?

Doch, aber nicht in diesem Ausmaß, Tanz war nicht so elementar Teil des Werks. Was auch neu war: Sowohl im Finale des ersten als auch des zweiten Akts liegen Tote auf der Bühne. Das ist hart.

Hat Ihr Vater später noch viel über „West Side Story“ gesprochen? Und wenn ja, wie?

1980 machte er eine Einspielung mit der Deutschen Grammophon. Es bereitete ihm so viel Freude, sein eigenes Werk wiederzuentdecken. Er sprach, als würde er es zum ersten Mal hören. Das tat ihm gut. Jahrelang hatten ihm die Leute gesagt: „Warum schreibst du nicht so etwas wie ,West Side Story’“? Natürlich kann man das, was man einmal gemacht hat, nicht wiederholen. Es belastete ihn, dass jeder eine weitere „West Side Story“ von ihm erwartete. Er wollte nicht wegen dieses einen Musicals in Erinnerung bleiben, weil er so viel andere Musik geschrieben hatte, die er mit der Welt teilen wollte. Durch die Deutsche-Grammophon-Aufnahme konnte er so etwas wie Frieden mit dem Werk schließen.

Welche anderen seiner Werke hielt er für bedeutsam?

Wahrscheinlich alle. Aber am meisten vielleicht „Mass“. So viel von seinem Leben, seiner Arbeit, von dem, was ihn interessiert hat und was er für künstlerisch wertvoll hielt, steckt da drin. Er legte alles, was er hatte, in „Mass“. Andererseits hätte er wohl bei jedem Werk, das er gerade spielte, über das er sprach oder nachdachte, gesagt: „Ja, das ist mein Favorit!“

Die Produktion an der Staatsoper hat Joey McKneely choreografiert. Kennen Sie sie?

Ich habe sie sehr oft gesehen. Auch Joey kenne ich seit vielen Jahren, er ist ein wunderbarer Regisseur und Choreograf und weiß wirklich, wie man mit Schauspielern und Tänzern umgehen muss. Einst hat er selbst in „West Side Story“ getanzt, noch mit Jerome Robbins.

In den USA selbst ist diese Inszenierung nicht zu sehen, da sie von der deutschen BB Promotion produziert wird. Was für eine „West Side Story“ bekommen die Amerikaner zu sehen?

Viele verschiedene Versionen, in Metropolen, kleineren Städten, an Theatern, Universitäten und Schulen. Jeder will „West Side Story“ aufführen. Obwohl es sehr, sehr schwer zu realisieren ist.

Warum?

Die Partitur ist rhythmisch vertrackt, für Sänger wie Musiker. Viele denken, sie kennen die Musik, weil sie sie so oft gehört haben und weil sie simpel klingt, aber das stimmt nicht. Außerdem ist der teils gewalttätige Stoff herausfordernd, wie auch die Choreografie. Man braucht Darsteller, die gleichzeitig gut singen, tanzen und schauspielen können. Das ist sehr, sehr schwer, vor allem bei begrenzten Ressourcen in kleinen Städten, wo Talente nicht an jeder Straßenecke warten. Fantastisch, wie die Leute es trotzdem immer wieder schaffen, wunderbare Aufführungen zusammenzustellen.

Alexander Bernstein

Wie alt war Ihr Vater bei Ihrer Geburt?

37. Zwei Jahre später wurde „West Side Story“ erstmals am Broadway aufgeführt.

Wie viel Zeit hatte er für Sie? Wie war Leonard Bernstein als Vater?

Sagenhaft. Sicher, er reiste viel, dirigierte Orchester überall auf der Welt, ging auf Tournee mit den New Yorker Philharmonikern. Aber wenn er zu Hause war, war er wirklich zu Hause. Er genoss es unendlich, bei der Familie zu sein, zu spielen, Sport zu treiben, zu lachen. Er war ein sehr humorvoller Mann, liebte Witze, unser Haus ist immer voller interessanter, fröhlicher Menschen gewesen. Was für ein Glück, so aufwachsen zu dürfen.

Leonard Bernsteins Geselligkeit ist legendär. Es heißt, er brauchte Menschen, hatte Angst vor dem Alleinsein, vor Depression. Haben Sie das auch so beobachtet?

Absolut. Er liebte Komponieren, und er hatte so viel Musik in sich. Aber das bedeutete, dass er allein sein musste. Nur Klavier, Papier und er. Das war sehr, sehr schwer für ihn. Gesellschaft bedeutete ihm alles. Er sagte immer, er könne es nicht aushalten, ein Ballett oder einen Sonnenuntergang alleine zu sehen. Er litt an einem Konflikt zwischen Dirigieren und Komponieren. Ich glaube, deshalb war ihm der Broadway so wichtig. Dort konnte er komponieren, zugleich aber auch mit anderen schöpferischen Geistern zusammen sein.

Haben Sie ihn oft alleine gesehen?

Ja. Er komponierte meist nachts, ging um 4 oder 5 Uhr zu Bett, wir sahen ihn erst am Nachmittag wieder, für eine Partie Tennis etwa. Nach dem Abendessen war es wieder Zeit zu arbeiten. Mit dem Alter wurde das schwieriger. Die Noten flogen ihm nicht mehr so selbstverständlich zu. Er plante immer zwischen Tourneen zwei Monate fürs Komponieren. Dann kam er nach Hause und musste sich komplett umstellen. Stellen Sie sich vor, wie schwer das ist. Eben noch die Aufregung, Massen, jubelnde Menschen, dann plötzlich muss man etwas produzieren, in sehr kurzer Zeit. Das war sehr hart für ihn.

Sie haben sich der Aufgabe gewidmet, das Vermächtnis Ihres Vaters lebendig zu halten. Was genau ist dieses Vermächtnis?

Er hat mehrere Talente auf einzigartige Weise in sich vereinigt, schuf Musik, interpretierte sie als Dirigent, war Lehrer und Kämpfer für soziale Gerechtigkeit. Das war alles verwoben, er konnte nicht eines sein ohne die anderen drei. Er war ein Vorbild. Das will ich so vielen Menschen wie möglich klarmachen, vor allem jungen.

Inwiefern war Leonard Bernstein ein großer Lehrer und Erzieher?

Er war Lehrer in allem, was er tat. Als Dirigent lehrte er Musik durch das Orchester, er trat im Fernsehen auf, sprach über Musik. Das haben Millionen Menschen gesehen, jahrelang. Auch in seinen Werken teilte er mit, was er sagen wollte. Gegen Ende seines Lebens machte er sich immer mehr Gedanken über Erziehung im Allgemeinen. Kurz vor seinem Tod entwickelte er ein großes Interesse an Kunst, nicht nur Musik, und wie sie Neugierde entfachen kann. Dann starb er plötzlich. Wir hielten die Idee am Leben, entwickelten das Programm „Artful Learning“ (www.artfullearning.org). Die Idee ist, den kreativen Schaffensprozess zur Grundlage des Unterrichts zu machen. Lehrer können eigene Lehrpläne erstellen, auf Basis von Kunstwerken.

[ Das Gespräch führte Udo Badelt]

Hat er jemals über Politik gesprochen?

Die ganze Zeit! Er wuchs auf unter der Präsidentschaft von Franklin D. Roosevelt, der war sein Held, wie Martin Luther King. Wenn er an eine Sache glaubte, setzte er sich voll und ganz dafür ein. Heute bin ich oft froh, dass er nicht mehr da ist, um das zu sehen.

Was würde er über den Zustand der amerikanischen Politik im Jahr 2019 sagen?

Er würde brüllen und schreien und hart daran arbeiten, etwas zu ändern. Dazu würde er seine ganze Kraft einsetzen, mit und ohne Musik.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Check Also

Kim bettelt um Spenden für Papa und Opa

Die Sanktionen drücken und Kim scheint kaum noch Geld zu haben. Alles fließt in sein Raket…