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Kultur - 14.12.2018

„Diese Gewalt betrifft uns alle. Nicht nur Kanaken“

Anlass NSU: Mit „Aus dem Nichts“ hat Fatih Akin einen Politthriller über rechten Terror in Deutschland gedreht. Ein Gespräch mit ihm und Hauptdarstellerin Diane Kruger.

Trauer und Wut. Diane Kruger als Frau, die Mann und Kind bei einem Anschlag verliert.

Fatih Akin, was hat Sie bewogen, die NSU-Morde als Rachegeschichte zu erzählen?

AKIN: Mein erster Impuls war Wut. Gar nicht so sehr über die Morde an sich, sondern darüber, dass sich alle geirrt hatten: die Ermittler, die Presse, die Gesellschaft. Die Mörder waren eben nicht türkische Mafiosi oder Drogendealer, sondern Neonazis. Diese Wut wollte ich verarbeiten, aus der Sicht eines Opfers.

Frau Kruger, erinnern Sie sich daran, wie Sie damals die Nachrichten um die sogenannten „Döner-Morde“ wahrgenommen haben?

KRUGER: Ich lebte zu der Zeit in den USA und hatte über die Mordserie nur gehört, was die amerikanischen Medien berichteten.

AKIN: Ich hab den Artikel im „Spiegel“ gelesen, Soko Bosporus und so. Und natürlich habe ich damals geschluckt, was der „Spiegel“ schrieb. Wie wir alle.

Der Film hat eine klassische Drei-Akt-Struktur: Familie – Gerechtigkeit – das Meer. Warum diese Dramaturgie?

AKIN: Beim Schreiben setzt man dramaturgische Beats, dabei entstehen im Drehbuch Passagen. Ich muss genug Beats setzen, um zu zeigen, dass die Hauptfigur am Ende ist, sie trauert um ihren Mann und ihr Kind. Dafür brauche ich Zeit, sonst glaubt das Publikum nicht, dass sie sich schließlich sogar das Leben nehmen will. Der nächste Beat ist der Gerichtsprozess. Ich weiß bereits, dass die Täter freigesprochen werden. Aber auch dieser Beat braucht Zeit, sonst wirkt er wie eine Behauptung. Ich habe für das Verfahren viel recherchiert, zwei Juristen haben mich beraten. Auch der Prozess hat für die Figur Katja eine dramaturgische Funktion, ihr Vertrauensverlust in den Rechtsstaat muss motiviert sein. Diese Konstruktion läuft auf den dritten Akt hinaus, ihre Rache.

Gab es für jedes Kapitel eine eigene visuelle Strategie?

AKIN: Kameraarbeit ist immer Rhetorik. Je nachdem, wo ich die Kamera positioniere, verändert sich die Vermittlung vom Gefühl der Figur zum Zuschauer. Wenn ich Diane im ersten Akt in den Bildwinkeln kadriere, nimmt man ihre Figur anders wahr, gebrochener, als wenn ich sie wie im Gerichtssaal frontal filme.

Jedem Akt ist ein kurzes Handyvideo mit Alltags- und Urlaubsszenen vorgestellt. Fungieren diese Aufnahmen als eine Art Eichung, um an die emotionale Fallhöhe des folgenden Kapitels zu erinnern?

AKIN: Ich verwende am Anfang des Films nicht viel Zeit darauf, die Familie einzuführen. Der Film kommt schnell zur Sache.

Fatih Akin

Fatih Akin, 44, gehört zu den international bekanntesten deutschen Regisseuren. Sein Rachedrama „Aus dem Nichts“, das am Donnerstag ins Kino kommt, sorgte schon bei der Weltpremiere in Cannes für Furore. Akin erhielt für den Film nach „Auf der anderen Seite“ (2007) bereits die zweite Auszeichnung in Cannes. Zuletzt hatte der Regisseur Wolfgang Herrndorfs Roman „Tschick“ verfilmt.

Kann man so sagen. Der Anschlag findet statt, noch bevor der Filmtitel zu sehen ist.

AKIN: Um also zu erzählen, mit was für einer Familie wir es zu tun haben, benutze ich die Handyaufnahmen. Ich fand es reizvoller, dem Publikum die Informationen häppchenweise zu geben, statt sie als Block an den Anfang zu stellen. Es ist natürlich auch ein attraktives Stilmittel zwischen den Kapiteln.

Ihr Film bezieht sich auf den Nagelbombenanschlag von Köln aus dem Jahr 2004. Ist dieser gut dokumentierte Fall exemplarisch für den Umgang mit rechtem Terror in Deutschland? Oder welche Gründe gab es, sich auf diesen Anschlag des NSU zu berufen?

AKIN: Ich habe beim Schreiben der Szenen ausschließlich filmisch gedacht. Der Anschlag in Köln war in filmischer Hinsicht der wirkungsvollste NSU-Mord, ich musste die Explosion dafür nicht einmal zeigen. Die sogenannte Ceska-Mordserie war ein völlig anderes Ritual, ein Anschlag mit einer Waffe berührt auch die Zuschauer ganz anders. Eine Bombe dagegen ist hinterhältig, feige. Man muss den Opfern nicht einmal ins Gesicht blicken.

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Die NSU-Mordserie legte einen umfassenden Rassismus in Deutschland offen. Einerseits gibt es organisierte rechtsextreme Gewalt. Andererseits einen institutionellen Rassismus, der die Existenz von rechtsextremen Strukturen systematisch verdeckte. Ihr Film spricht lediglich vom rechten Terror einer kleinen Neonazi-Gruppe und geht überhaupt nicht auf den staatlichen „NSU-Komplex“ ein. Warum?

AKIN: „Aus dem Nichts“ handelt nicht vom NSU, ich habe mich da eher bedient. Der Prozess in München läuft ja auch noch, die Hintergründe werden wahrscheinlich nie geklärt werden. Was wäre das für ein Spielfilm, der den echten Fall aufgreift, während der Prozess noch läuft? Dafür macht man besser einen Dokumentarfilm.

Mir war auch nicht klar, in welcher Realität „Aus dem Nichts“ angesiedelt ist. Der Film spielt in einem Jahr 2016, in dem kein NSU existiert. Als deutscher Zuschauer sieht man den Film natürlich durch die NSU-Brille, während das rechte Netzwerk im Film eine große Enthüllung ist.

AKIN: Das ist wie in „Rocky“. „Rocky“ spielt in den Siebzigern, und Sylvester Stallone kämpft gegen einen schwarzen Boxer, der Attribute von Muhammad Ali vereint. „Aus dem Nichts“ existiert ebenfalls in einem solchen Paralleluniversum.

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