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Kultur - 06.04.2019

Die späte Aufklärung über Vergewaltigungen durch GIs

Zahlreiche Bücher befassen sich mit dem Kriegsende vor 70 Jahren. Es geht um kriegsmüde Wehrmachtssoldaten, aber auch um die schleppende Aufklärung über Vergewaltigungen und andere Gräuel der westlichen Alliierten. Auch das ZDF nahm sich diesem bisherigen Tabuthema an. Ein Überblick.

Miriam Gebhardt hat mit ihrem Buch „Als die Soldaten kamen“ ein Tabuthema aufgegriffen.

Die Geschichte des Kriegsendes, sollte man meinen, ist auserzählt. Berlin wird von der Roten Armee erobert, Hitler erschießt sich in seinem Bunker, die letzte Reichsregierung in Flensburg bereitet die Kapitulation vor. So die Kurzfassung der Ereignisse, die im 8. Mai 1945 kulminieren. Doch in diesen Tagen spielten sich auch Dramen und Tragödien, mitunter Komödien ab, die vergessen sind. Der amerikanische Militärhistoriker Stephen Harding berichtet in seinem Buch „Die letzte Schlacht“ von einer solchen Begebenheit, die er als „unmögliche Mission“ und „einmalige Koalition“, gar als „unglaubliches historisches Ereignis“ bezeichnet.

Zu den Mythen der letzten Kriegsmonate gehört der Terminus „Alpenfestung“. Die NS-Propaganda hatte angekündigt, dass der Krieg notfalls von den schwer zugänglichen Hochgebirgsgebieten von Bayern und Österreich aus fortgeführt werden solle. Die vorrückenden amerikanischen Truppen gingen davon aus, in Tirol auf gewaltige Verteidigungsstellungen und erbittert kämpfende deutsche Eliteeinheiten zu treffen. Aber die Alpenfestung war ein Phantom. Zum Ausbau der Verteidigungsanlagen hatten Material und Zeit gefehlt, die Alpenregion war zum Auffangbecken eines bunt gemischten, allerletzten Aufgebots geworden. Dazu gehörten neben Männern der Waffen-SS, die entschlossen waren, lieber zu sterben als zu kapitulieren, vor allem gewöhnliche Wehrmachtssoldaten, die längst kriegsmüde waren.

In der geisterhaften Alpenfestung existierte aber eine Bergfestung, die eine Art Schatz hütete. Schloss Itter, das auf das 10. Jahrhundert zurückgeht und auf einem Bergsporn über dem Brixental thront, war 1941 in ein Gefängnis für „Ehrenhäftlinge“ umgewandelt worden. In den letzten Kriegswochen lebten dort knapp zwei Dutzend Gefangene, die zur politischen und militärischen Elite Frankreichs gehörten, darunter die ehemaligen Premierminister Édouard Daladier und Paul Reynard, der abgesetzte Generalstabschef Maurice Gamelin, der Gewerkschafter Léon Jouhaux sowie der Faschist François de La Rocque, der dem Vichy-Regime gedient und gleichzeitig für alliierte Geheimdienste spioniert hatte.

Die letzten Schlachten. Straßenkampf in Berlin im April 1945.

Diese Prominenten konnten als Geiseln dienen oder als Verhandlungsmasse in diplomatischen Manövern. Gerettet wurden sie von einem bunt zusammengewürfelten Haufen aus amerikanischen Panzer- und Infanteriesoldaten sowie deutschen Wehrmachtsangehörigen, die eigentlich schon die Waffen gestreckt hatten. Sie verteidigten Schloss Itter am 4. und 5. Mai 1945 gegen die Belagerung durch zahlenmäßig weit überlegene SS-Angreifer. Dieses Gefecht, „die letzte Bodenkampfhandlung des Zweiten Weltkriegs in Europa“, gleich „Schlacht“ zu nennen, wie Harding es tut, ist allerdings ein wenig übertrieben.

Als heimlicher Held fungiert Josef „Sepp“ Gangl

Der Autor ist Militariaexperte und wohl auch -fan. So erfährt der Leser, dass das deutsche Maschinengewehr MG-42 für sein charakteristisches Rattern bekannt war und scherzhaft „singende Säge“ genannt wurde. Die amerikanische Browning Kaliber .50 antwortete mit „langsamerem, tiefem Klopfen“. Von einem „Höllenritt“ des US-Stoßtrupps ist die Rede, überhaupt geht es sehr machohaft und mutig zu. Manchmal kommt es einem vor, als würde man den Plot schon aus einem Kriegsfilm mit Sean Connery, Karl Malden und dem Zigarre kauenden Ernest Borgnine kennen. Als heimlicher Held fungiert der Wehrmachtsmajor Josef „Sepp“ Gangl. Seine Rolle hätte Hardy Krüger übernehmen müssen.

Berufssoldat Gangl, der noch im März 1945 für seine Tapferkeit mit dem Deutschen Kreuz in Gold dekoriert worden war, hatte gleich nach seiner Ankunft in Tirol Kontakt mit einer Widerstandsgruppe aufgenommen. Warum? Harding glaubt, dass sich im Frontwechsel des Majors sein „wahrer Charakter“ gezeigt habe. Die Schilderung gebrochener, moralisch uneindeutiger Figuren gehört zu den Stärken des Buches. Abgründig und gleichzeitig beeindruckend erscheint der SS-Hauptsturmführer Kurt-Siegfried Schrader, der sich den Widerständlern anschloss und das militärische Kommando auf der Burg übernahm. Zuvor hatte er in Serbien und der Ukraine „Partisanen bekämpft“ – ein Euphemismus für Kriegsverbrechen – und in der Normandie gekämpft, mit der SS-Panzerdivision „Frundsberg“, zu der bei Kriegsende auch Günter Grass gehörte. Ein SS-Offizier als Vorbild? Eher nicht.

Stephen Harding: Die letzte Schlacht. Als Wehrmacht und GIs gegen die SS kämpften. Paul Zsolnay, Wien 2015. 319 Seiten, 24,90…

„Im Krieg wird der allgemeine Code männlicher Gemeinschaft umgedreht“, schreibt der amerikanische Schriftsteller Meyer Levin, der die vorrückenden US-Truppen als Kriegsberichterstatter begleitete. „Es ist richtig zu töten, und mit dieser Erlaubnis werden alle anderen zivilen Regeln infrage gestellt: die nicht zu stehlen, zu lügen und zu vergewaltigen.“ Die Historikerin Miriam Gebhardt zitiert Levin in ihrem Buch „Als die Soldaten kamen“, das die Vergewaltigung deutscher Frauen am Ende des Krieges erstmals umfassend darstellt. Gewalt gegen Frauen durch ihre „Befreier“ war nicht bloß in der Kampfzone der Roten Armee, sondern – so Gebhardts überraschender Befund – auch in West- und Süddeutschland ein Massenphänomen.

Mädchen springen aus dem Fenster

„Überall in Oberbayern“, konstatiert die Autorin, „begleiten den Einmarsch der Amerikaner Plünderungen, Verwüstungen, Gewalttaten einschließlich Vergewaltigungen.“ In Moosburg an der Isar dauern die Plünderungen acht Tage an. Die Vergewaltigungen beginnen am ersten Tag nach der Eroberung. GIs dringen in Häuser ein, anwesende Männer werden mit vorgehaltenem Messer oder Revolver verjagt. Ein oder zwei Soldaten stehen jeweils bei den Vergewaltigungen Wache. Mehrere Mädchen springen aus Verzweiflung aus dem Fenster und bleiben verletzt liegen. Vermutlich kommt es in Moosburg auch deshalb zu Gewaltexzessen, weil sich in der Stadt ein Kriegsgefangenenlager mit 40 000 Insassen befand, darunter viele Amerikaner.

Ernst Piper (Hg.): 1945. Niederlage und Neubeginn. Edition Lingen Stiftung, Köln 2015. 272 Seiten, 24,95 Euro.

Gebhardt beschreibt das Kriegsende als „Niemandszeit, angefüllt mit Angst und Sorgen“. Was folgte, war das große Schweigen, das bei den Opfern westlicher Vergewaltiger noch umfassender war als bei den Frauen im Osten, von denen geraunt wurde, der „Russe“ oder „Iwan“ habe ihnen „etwas angetan“. Wer sich nicht vehement genug gewehrt hatte, wurde als „Ami-Liebchen“ oder „Veronika Dankeschön“ abgestempelt, die sich für eine Strumpfhose oder eine Tafel Schokolade mit den Besatzern eingelassen hatte. Im Erzbistum München-Freising wurden Berichte über die Ereignisse bei Kriegsende gesammelt. Ein aufschlussreicher Quellenfund. Die Theologen unterscheiden herablassend zwischen „sittlichem“ und „unsittlichem“, also freiwilligem und unfreiwilligem Sex, der selten vorkommt. Im Bericht eines Pfarrers heißt es: „Ernstere Belästigungen an Frauen kamen nur in 2 oder 3 Familien vor.“ Vergewaltigungen wurden als Belästigungen, nicht als Verletzungen begriffen.

Miriam Gebhardt betreibt verspätete Aufklärung, sie formuliert mit Verve und Nachdruck, Wissenschaft und Gesellschaft hätten „bei der Aufarbeitung des Themas versagt“, den professionellen Erinnerern sei es nicht gelungen, „den Betroffenen Empathie zu zeigen“. „Als die Soldaten kamen“ ist nach der Wiederveröffentlichung des Tagebuches der „Anonyma“ und Helke Sanders feministischem Dokumentarfilm „BeFreier und Befreite“ der dritte Versuch, eine Debatte über die Vergewaltigungen bei Kriegsende zu beginnen. Auch das ZDF nahm sich dem Thema im Film „Die Verbrechen der Befreier an.“ (Hier in der ZDF-Mediathek).

Gebhardt schätzt, dass „mindestens 860 000 deutsche Frauen und Mädchen, aber auch Männer und Jungen“ vergewaltigt wurden. Ihr wird nun, ähnlich wie einst Sanders, vorgeworfen, dass die Zahlen nicht belegbar seien. Doch die Historikerin legt ihre Methode offen. Sie hat die Summe von 8600 Kindern errechnet, die aus Vergewaltigungen hervorgegangen seien, und diese mit dem Faktor zehn multipliziert. Beweisen lässt sich ihre Zahl nicht. Aber seriös ist sie.

Das Jahr 1945 markiert einen Neubeginn, der auch der Aufbruch ins Vergessen war. Der Schlager „Die Capri Fischer“, mit der sentimentalen Zeile „Wenn bei Capri die rote Sonne im Meer versinkt“ war vom Komponisten Gerhard Winkler und dem Texter Ralph Maria Siegel bereits 1943 geschrieben worden. Im Radio – daran erinnert Silke Kettelhake im Sammelband „1945. Niederlage und Neubeginn“ – wurde er verboten, weil die Alliierten gerade auf Capri gelandet waren. Rudi Schuricke machte den Song zum Hit, er erzählte nun von der Italiensehnsucht der Adenauer-Deutschen. „Bella, bella, bella Marie, vergiss mich nie.“

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