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Kultur - 19.03.2019

Die Nabelprobe

Zwischen Kontingenz und Inkontinenz: Milan Kundera feiert in einem unendlich heiteren Altersdivertimento „Das Fest der Bedeutungslosigkeit“.

Polyphone Stimmenführung über ironischem Grundton. Milan Kundera.

Letzte Worte waren ihm von jeher zuwider. Milan Kundera erging sich, wo immer es ihm gelang, im Lob des Vorläufigen, eines Stoffes, der mit zunehmendem Alter bekanntlich rasant schwindet. Was also, wenn die kleine Rede, die er am Ende seines Romans „Das Fest der Bedeutungslosigkeit“ einem gewissen Ramon in den Mund legt, tatsächlich die letzte Äußerung des bald 86-Jährigen wäre?

„Die Bedeutungslosigkeit“, erklärt Ramon, den man nach einer winzigen Buchstabenvertauschung auch als Hüter des Romans schlechthin verstehen könnte, „ist die Essenz der Existenz. Sie ist überall und immer bei uns. Sie ist sogar dort gegenwärtig, wo niemand sie sehen will: in den Greueln, in den blutigen Kämpfen, im schlimmen Unglück. Das erfordert oft Mut, sie unter so dramatischen Umständen zu erkennen und bei ihrem Namen zu nennen. Aber es geht nicht nur darum, sie zu erkennen, man muss sie lieben, die Bedeutungslosigkeit, man muss lernen, sie zu lieben.“

Wie schwer dieses bei einem Spaziergang im Jardin du Luxembourg mit unendlicher Heiterkeit vorgetragene Bekenntnis auch wiegen mag, weil es selbst unter das Verdikt der Bedeutungslosigkeit fällt, es geht über das hinaus, was Milan Kundera in einem kanonischen Essay als „Die Kunst des Romans“ definiert hat. Denn der Roman ist für ihn zwar eine Relativitätserzeugungsmaschine, doch keine Sinnvernichtungsanstalt. Sein Daseinsgrund besteht darin, etwas zu sagen, „was allein der Roman sagen kann“.

Er lebt von der „Weisheit der Ungewissheit“, die an die Stelle einer absoluten Wahrheit eine Menge widersprüchlicher Wahrheiten setzt. Die Stimmen seiner erzählerischen Polyphonie verflicht er zu einer Musik von der „essentiellen Relativität der menschlichen Dinge“, die wiederum nicht im Roman aufgeht, weil es sich um einen Erkenntnismodus handelt, der, vom „Geist der Komplexität“ beseelt, in der Schwebe hält, was in der Philosophie nur wahr oder falsch sein darf.

Milan Kundera, der Mann, der aus Prinzip alle Prinzipien ablehnt, reiht sich ein in eine Tradition, als deren frühe Höhepunkte er Miguel de Cervantes’ „Don Quijote“ und Denis Diderots „Jacques der Fatalist und sein Herr“ verehrt, um dann Franz Kafkas Schuldgebirge und Hermann Brochs Irrationalitätslabyrinthe zu durchqueren – Textlandschaften, die noch vor den bittersten Zeiten des 20. Jahrhundert entstanden.

Ihnen hat Kundera, 1929 im mährischen Brünn geboren und aufgewachsen, in seinen eigenen Romanen eine mitteleuropäisch-tschechische Spielart hinzugefügt, die im tiefsten Kalten Krieg den Doktrinen des sozialistischen Realismus ein ironisches Schnippchen schlug, bevor er 1975 ein ihn erstickendes Prag verließ und nach Paris zog. „Der Scherz“, „Das Leben ist anderswo“ und „Abschiedswalzer“ heißen die ebenso anmutigen wie frivolen Romane, in denen er, nach einem frühen Flirt mit dem Kommunismus, seine Gesellschaft porträtierte: Werke, denen 1984 sein letzter auf Tschechisch geschriebener Welterfolg „Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins“ folgte. 1990 wechselte er mit der „Unsterblichkeit“ ins Französische.

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