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Kultur - 18.03.2019

Der intellektuelle Schizophreniker

Kompensation und Klartext: Der „Merkur“ widmet dem verstorbenen Schriftsteller Michael Rutschky eine eigene Abteilung mit sechs Erinnerungstexten. Die Zeitschriftenkolumne.

Hauptwerk Tagebuch? Michael Rutschky in seinem Kreuzberger Arbeitszimmer.

Die Trias von Leben, Werk und Zeit, die allen ernsthaften Inspektionen von Künstlerbiografien zugrunde liegt, lebt von wechselnden Mischungsverhältnissen. Mal lässt sich jemand durch und durch als Kind seiner Epoche porträtieren. Mal emanzipiert sich ein Werk ganz und gar davon, was früher gerne mit dem Begriff des Genialen belegt wurde. Und mal stecken so viel persönliches Blut, Schweiß und Tränen in der Produktion, dass sich eine therapeutische Lektüre kaum vermeiden lässt. Welche Schwerpunkte aber auch immer geraten sind: Der Versuch, Ordnung ins biografische Kuddelmuddel zu bringen, lebt von der ständigen Selbstermahnung, erstens nicht unhistorisch vorzugehen und zweitens Leben und Werk nur mit der allergrößten Vorsicht als zwei Seiten derselben Medaille zu betrachten.

Über den im März mit 74 Jahren verstorbenen Berliner Schriftsteller Michael Rutschky wird kaum jemand eine Biografie schreiben – schon weil die Tausende von Seiten seiner noch weitgehend unveröffentlichten Tagebücher eine „Selberlebensbeschreibung“ (Jean Paul) enthalten, die sich jedem Aspiranten machtvoll entgegenstellt. So verplaudert die beiden im Berenberg Verlag erschienenen Bände „Mitgeschrieben: Die Sensationen des Gewöhnlichen“ mit Aufzeichnungen aus den Jahren 1981 bis 1984 und „In die neue Zeit“ aus den Wendejahren 1988 bis 1992 sind, so sehr zehren sie von einer alles unmittelbar Geständnishafte scheuenden ethnografischen Methode, die auch im Schreiben über Dritte seine Stärke war. Zuletzt führte es im „Merkbuch““ (2012), seiner „Vatergeschichte“, zu einem aufschlussreichen Porträt der frühen Bundesrepublik.

Was sechs seiner Freunde und Freundinnen nun an Erinnerungen im Juliheft des „Merkur“ (Nr. 830, 12 €) zusammengetragen haben, verleiht der Spannung von Leben und Werk indes eine unvorhersehbare dialektische Pointe: Was geschieht, wenn ein Autor wie Rutschky Leben und Werk – oder in seinem Fall subjektive Existenzwahrheit und intellektuelle Grundhaltung – so krampfhaft trennt, dass sich beides schon wieder fatal berührt? Kathrin Passig legt Herrn Rutschky, der auch mit engen Wegbegleitern bis zuletzt das Sie pflegte, noch einmal mit charmanter Ironie ihre Bewunderung zu Füßen. David Wagner berichtet vom letzten Spaziergang mit dem Meister der Höflichkeit und seinem Hund Quarto durch den Park am Gleisdreieck. Brigitte Landes berichtet von einem Besuch am Grab von Heiner Müller. Kurt Scheel zeichnet ein Bild von der Seebestattung vor Warnemünde.

Normalisierung bis zur Unkenntlichkeit

Mit Dirk Knipphals kommt allerdings ein erster dezenter Hinweis auf Rutschkys intellektuelle Schizophrenie ins Spiel. Sein Beitrag untersucht Rutschkys Rezension der Kunstmärchen von Hans Christian Andersen, der zugleich ein großer Diarist war. In der „taz“ vom 9. September 1990 heißt es: „Man darf also die Märchen Hans Christian Andersens als Klartext eines gequälten Lebens lesen, das von den Tagebüchern bis zur Unkenntlichkeit normalisiert wird.“

Wo Knipphals nur andeutet, dass es sich bei der Auseinandersetzung mit Andersen um ein heimliches Selbstporträt handelt, wird es bei Jörg Lau zur Gewissheit. Der subtile, theoriebeschlagene Essayist Rutschky leistete sich eine geradezu erschreckend simple Transformation seines privaten Ungenügens in die Einbildung einer in den Fortschritt verliebten, goldene Zeiten erwartenden Welt. Der von Rutschky als Nachlassverwalter eingesetzte Lau musste, ohne das Geringste geahnt zu haben, den unveröffentlichten Tagebüchern unter anderem entnehmen, dass die Ehe des intellektuellen Traumpaars Michael und Katharina Rutschky schnell angeknackst war: „Derselbe Mann, der sein privates Unglück so klarsichtig aufschrieb, erledigte jede Erörterung gesellschaftlichen Unheils mit dem Bannfluch, wer sich darauf auch nur einlasse, mache sich des Rückfalls in übelste Kulturkritik schuldig.“

Der Kulturkritikekel führte zu schneidenden mündlichen Interventionen, ist aber auch in Essays dokumentiert. Wenn aber, so Lau, mit den Tagebüchern Rutschkys größte literarische Leistung vorliegt, lässt sich die Schizophreniediagnose zumindest abmildern: Ihr Autor musste die Annäherung von Leben und Werk eben nur post mortem verschieben.

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