„Das Klavier ist mein Avatar“
Der Jazzpianist Michael Wollny über Improvisation, die Kunst, sich selbst zu vergessen – und ein Leben am Strom. An diesem Freitag erscheinen gleich zwei neue Alben des großartigen Musikers.
Michael Wollny, Deutschlands erfolgreichster junger Jazzpianist.
Michael Wollny, 1978 in Schweinfurt geboren, ist Deutschlands erfolgreichster junger Jazzpianist. Seit 2014 lebt er in Leipzig, wo er an der Hochschule für Musik und Theater lehrt. An diesem Freitag erscheinen beim Münchner Label ACT gleich zwei neue, nach ihren Einspielungsorten benannte Trio-Aufnahmen mit Wollny: das Studioalbum „Oslo“ und das Livealbum „Wartburg“, gemeinsam mit seinem langjährigen Gefährten, dem Schlagzeuger Eric Schaefer, und dem Kontrabassisten Christian Weber – sowie Gästen auf einzelnen Tracks. Anlässlich seines 40. Geburtstag tritt Wollny am 29. Mai mit seinem Trio auch in der Berliner Philharmonie auf. Vom 31. Mai bis 2. Juni ist Michael Wollny als Artist-in-Residence beim Hamburger Elbjazz-Festival eingeladen.
Herr Wollny, Sie gehören zu den Musikern, die sich ohne jeden vorgefassten Plan ans Klavier setzen können und aus dem Augenblick heraus ganze Konzerte spielen. Warum sitzen Sie vor diesem Aufbruch ins Unbekannte nicht zitternd und Nägel beißend in der Garderobe?
Ich würde sehr viel mehr zittern, wenn ich genau wüsste, was ich zu spielen hätte. Die Vorstellung, mit Vorlagen und detaillierten Vorgaben arbeiten zu müssen, obwohl sich der Moment ganz anders anfühlt, ist für mich viel schlimmer. Ich müsste meine Entscheidungen ständig mit einem Plan oder einer Partitur abgleichen. Je offener die Dinge sind, desto weniger Angst empfinde ich.
Auch dieses Improvisieren will gelernt sein.
Ja, ohne eine gute handwerkliche Vorbereitung geht es nicht. Man muss seine Geläufigkeitsübungen machen und Stücke von anderen analysieren. Aus ihnen baue ich Tonvorräte, die ich dann mit den verschiedensten Fingersätzen und Voicings übe. Es geht darum, mich mit Themen zu umgeben, die vielleicht einen Funken auslösen. Manchmal notiere ich mir auch kleine Etüden. Wenn man das tut, wird man in der musikalischen Sprache immer freier. Ich sehe an meinem vierjährigen Sohn, wie es ist, eine Sprache zu lernen, und das trifft auch auf die Musik zu. Wie man erst Laute imitiert und dann Wortverbindungen ausprobiert. Zugleich braucht man auf der Bühne die Erdung im Moment, damit die unendliche Vielzahl der Möglichkeiten etwas Notwendiges bekommt.
Wächst Ihr musikalisches Vokabular eigentlich noch?
Ich hoffe es. Wobei Wachsen vielleicht nicht der richtige Ausdruck ist. Man hat nun einmal keinen unbegrenzten Speicher. Ich vergesse auch vieles. Im besten Fall bewegt sich der Fokus, mit dem ich meine Vorräte in den Blick nehme, ständig weiter.
Sie entdecken auch immer wieder Neues.
O ja. Mein ganzes letztes Jahr stand im Zeichen von zwei Komponisten. An der Leipziger Hochschule habe ich mich mit Alexander Skrjabin noch einmal eingehend beschäftigt – und die Welt des Finnen Einojuhani Rautavaara zum ersten Mal kennengelernt. Und halt, bevor ich’s vergesse: In einem meiner Seminare habe ich mich vor kurzem intensiv mit Duke Ellington in seiner Eigenschaft als Pianist auseinandergesetzt. Mannomann, dachte ich, das Neue liegt nicht nur in der Zukunft.
Woher wissen Sie, dass es im Konzert selbst gut gehen wird? Weil es immer gut gegangen ist?
Es ist mein Beruf, meine Leidenschaft, mein Spaß! Und selbst wenn man das Lampenfieber nicht verliert: Irgendwann gewinnt man Vertrauen in die eigene Erfahrung. Wenn man eine unangenehme Situation überstanden hat, verleiht einem dies Stabilität für die nächste. Wenn man dies dann ein paar Mal gemacht hat, entsteht eine Art Urvertrauen in den Moment.
Starren Sie nie in ein schwarzes Loch?
Natürlich gibt es Sackgassen. Aber dann dreht man sich eben um und schlägt eine andere Richtung ein. Selbst wenn ich kurz abbreche: Mit einer Pause muss man nicht automatisch das Ganze in Frage stellen. Die größte Gefahr besteht darin, allzu bewusst Einfluss auf den Prozess des Spielens zu nehmen.
Mit dem Herzen des dunklen Romantikers. Michael Wollny.
Ihre Absicht ist die Absichtslosigkeit.
Absichtslosigkeit ist ein treffendes Wort. Das kennen Sie vielleicht auch aus Interviews. Wenn man merkt, ach, das Band läuft nicht, die Batterien sind leer, und man fängt mit denselben Fragen noch einmal von vorne an, wird es sofort unentspannt. Man wird aus dem Fluss genommen. Die besten Konzerte sind immer die, wo zwischen dem Moment, in dem ich meinen Kompass ausrichte, und dem Moment des Auftritts ein bruchloses Gleichgewicht herrscht.
Miles Davis hat behauptet: „Keine Angst vor Fehlern – es gibt keine.“ Teilen Sie seine Ansicht, dass sich neunzig Prozent aller Fehler durch eine intelligente Wendung ausbügeln lassen?
Neunzig Prozent, das ist eine sehr optimistische Annahme. Aber es stimmt insofern, als sich jeder Prozess verkrampft, wenn man ihn vom Ziel her denkt. Wir müssten auch überhaupt erst einmal definieren, was ein Fehler ist. Eine falsche Note ist ja im Sinne der musikalischen Spannung nicht an sich eine falsche Note.
Was passiert eine Stunde vor dem Auftritt – und was fünf Minuten zuvor?
Eine Stunde zuvor bin ich, wenn möglich, am liebsten alleine, meistens mit einem Glas Rotwein in einem abgedunkelten Raum. Fünf Minuten vorher beginnt es, sehr technisch zu werden. Ich warte auf das Signal zum Auftritt oder bin schon Richtung Bühne unterwegs. Ich versuche, schon mal den Saal zu spüren. Es ist etwas ganz anderes, den Saal vom Soundcheck zu kennen, als ihn dann mit Publikum zu erleben.
Sorgt das Glas Rotwein für die angemessene Wurschtigkeit?
Ja, die Konzentration entsteht dann auf der Bühne. Man sitzt im Scheinwerferlicht, und alle schauen einen an. Plötzlich steht der Schalter des Systems auf On, die Membran ist gespannt. Diese innere Spannung ist eine Grundvoraussetzung dafür, dass die Musik einen Klang bekommt. Wenn auf der Trommel das Fell zu lasch aufgezogen ist, hört man schließlich auch nicht viel.
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