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Kultur - 23.03.2019

Das Erbe kommt ans Licht

Die französische Schriftstellerin Annie Ernaux erzählt in ihrem Buch „Der Platz“ von der unüberbrückbaren Distanz zu ihrem Vater.

Prosa der Erinnerung. Annie Ernaux brauchte 15 Jahre, bis sie über ihren verstorbenen Vater schreiben konnte.

Als ihr Vater 1967 starb, war sich Annie Ernaux sofort darüber im Klaren, dass sie über ihn schreiben würde. Sie wartete damals gerade auf ihre erste Stelle als Lehrerin, war 27 Jahre alt und Mutter eines kleinen Sohnes – und hatte das starke Bedürfnis, alles zu sagen, was es zu ihm, aber auch zu ihr zu sagen gab, „über sein Leben und über die Distanz, die in meiner Jugend zwischen ihm und mir entstanden ist. Eine Klassendistanz, die zugleich aber auch sehr persönlich ist, die keinen Namen hat. Eine Art distanzierte Liebe.“ Und was kam Ernaux als erstes in den Sinn? Ein Roman über den Vater, kein nüchterner Lebensbericht. Doch beim Schreiben befiel sie schnell ein „Ekel“, die Mittel der Kunst erschienen ihr falsch, „um ein Leben wiederzugeben, das der Notwendigkeit unterworfen war“.

Nach dem Scheitern an diesem Roman brauchte Ernaux jedoch einige Zeit, um zu dieser Erkenntnis zu kommen, lange fünfzehn Jahre. 1984 erschien in der Edition Gallimard das schmale Vaterbuch „La Place“, nachdem Ernaux schon drei andere Bücher geschrieben hatte. In Deutschland dauerte es noch einmal über dreißig Jahre, bis die Qualitäten und das Besondere an Ernaux’ autobiografischer Literatur entdeckt und dementsprechend gewürdigt wurden. Nachdem in den Nullerjahren ihre Bücher „Sich verlieren“ und „Eine vollkommene Leidenschaft“ (Untertitel: Die Geschichte einer erotischen Faszination“) im Goldmann Verlag erschienen waren, Bücher über Ernaux’ obsessive Beziehung zu einem verheirateten russischen Diplomaten, landete die französische Schriftstellerin in der Frauenmagazin-Ecke und damit im literarischen Abseits.

Sie landete in der Welt, die auf ihn herabblickte

Erst mit der Übersetzung ihres 2008 veröffentlichten Buches „Die Jahre“, in dem Ernaux ihr Leben mit den Ereignissen der Epoche verschränkt, von den Fünfzigerjahren bis in die Gegenwart, schaffte es der Suhrkamp Verlag 2017, auch im Zuge des Hypes um Didier Eribons „Rückkehr nach Reims“, Ernaux einem größeren literarischen Publikum bekannt zu machen. „Der Platz“ ist nun nach dem im vergangenen Jahr erschienenen neuen Buch „Das Mädchen“ das dritte Buch von Ernaux, das in kurzer Folge veröffentlicht wird, und irgendwie wirkt diese Mischung aus Tempo und verzögertem Erscheinen kongenial. Warum es so lange gedauert hat, ausschließlich über ihren Vater zu schreiben, erklärt Ernaux in „Der Platz“ nicht. Von dem Gedächtnis, das Widerstand leiste, ist einmal die Rede, auch „weil es mir schwerer fällt, vergessene Ereignisse ans Licht zu holen, als neue zu erfinden.“

Das mutet ein wenig kokett an, ja, das klingt selbst nach einer Erfindung, zumal Ernaux’ erste Bücher gleichfalls autobiografisch inspiriert waren. Doch weisen die Kürze dieses Buches und die karge, sachliche Prosa darauf hin, dass Ernaux tatsächlich sehr viel Mühe mit ihrem Vater-Porträt hatte, ihr „La Place“ nicht leicht von der Hand ging. Was damit zu tun hat, dass sich auf einmal dieser Graben zwischen ihm und ihr auftat. Sie begann ein „seltsames, unwirkliches Leben“ zu führen, sich für Literatur zu interessieren, Lehrerin zu werden – und landete nach und nach in genau der Welt, „die auf ihn herabgeblickt hatte“.

Für den Lebensunterhalt reicht es

1899 wird der Vater in einem Dorf im Pays de Caux in der Normandie als Sohn eines Fuhrmanns geboren, der sich von früh an bei einem Großbauern „verdingen“ musste. Auch Ernaux’ Vater arbeitet dann selbst bis zu seiner Berufung zum Wehrdient als Knecht auf einem Hof. Es folgen nach dem Ersten Weltkrieg Beschäftigungen in einer Seilerei und auf einer Großbaustelle an der Seine, allerdings hat er da schon mit seiner Frau zusammen eine Art Ladenkneipe eröffnet, die noch nicht genug Geld zum Leben abwirft. Ernaux´ Mutter arbeitet hier zunächst allein. Die Familie wohnt erst in dem 12 000-Einwohner-Städtchen Yvetot, zieht dann für ein paar Jahre in ein Dorf in der Nähe von Le Havre, um schließlich in den Fünfzigerjahren nach Yvetot zurückzukehren.

Hier endet dann sein Leben als Arbeiter, schreibt Ernaux, nachdem ihre Eltern abermals Geschäftsräume gefunden haben, die gleichzeitig als Laden wie als Kneipe fungieren. Für den Lebensunterhalt reicht es nun, Vater und Mutter arbeiten beide in dem Geschäft, und „wir hatten alles, was man braucht, was bedeutete, dass wir uns satt aßen (der Beweis: es gab viermal in der Woche Fleisch vom Metzger) und dass es in der Küche und der Kneipe, den einzigen Räumen, in denen wir lebten, warm war.“

Sie will raus aus der proletarischen Enge

Immer wieder kursiviert Annie Ernaux bestimmte Ausdrücke und Sätze ihres Vaters, ihrer Mutter, so wie „nicht zu hoch hinauswollen“ oder „ich arbeite mich hier noch tot“. Sie erklärt dieses Vorgehen mit der Wortwörtlichkeit dieser Leben, mit einer Welt, „in der man alles wörtlich“ nahm. Und in der sich durchaus gewisse Glücksversprechen einlösen. Von Unglück, von Lebensverhältnissen am Rande des Existenzminimums kann hier keine Rede sein. Die Malaise besteht darin, dass dieses Leben ein zugewiesenes, fremdbestimmtes ist.

Und mittendrin eine Tochter, die rauswill, die in ein anderes Leben hereinwächst – und die viele Jahre später immer wieder reflektierend in ihr Vater-Porträt eingreift. Nicht nur, dass sie die Worte und Wendungen ihres Vaters genau betrachtet, sie hin- und herdreht, nein, sie fragt sich häufig, ob sie dieses Buch nur deshalb schreibt, weil sich Vater und Tochter nichts mehr zu sagen hatten. Schon früh prallen hier unterschiedliche Welten aufeinander, erscheint die Kluft der unterschiedlichen Klassen, in der beide sich bewegen, unüberbrückbar.

Von einer „neuartigen Form der Selbstbetrachtung“ spricht der Verlag im Klappentext, „einem Glutkern der Autofiktion“ gar, was arg herbeigetrommelt klingt. Doch tatsächlich ist Ernaux’ Prosa nüchtern, ohne Ausschmückungen, nicht einmal besonders anteilnehmend, so wie es gerade Ernaux´ Bewunderer und guter Freund Édouard Louis mit seinem Vaterbuch „Wer hat meinen Vater umgebracht“ demonstriert hat.

Bewusstsein ewiger Schuld

Die historischen Zeitläufe allerdings, die beiden Kriege, die Veränderungen nach dem Zweiten Weltkrieg lugen zwar mit hinein in dieses Buch. Sie haben aber gerade in Form der Kriege kaum Spuren in dieser Klassen- und Schichtbetrachtung hinterlassen. Ernaux hat solcherart Verschränkungen erst in späteren Büchern intensiver vorgenommen.

Man mag diese Form von Vaterbüchern nach denen von Louis und auch von Didier Eribon (der Ernaux ebenfalls als Vorbild nennt) inzwischen hinreichend gelesen haben, man kennt sie jetzt gut, diese von der Gesellschaft und den wirtschaftlichen Zwängen gebeugten Arbeiter-Väter. Trotzdem ist „Der Platz“, selbst 35 Jahre nach seinem erstmaligen Erscheinen ein besonderes Porträt, gerade in der anklingenden soziologischen Betrachtung der Zweiteilung und Fremdheit der Welten, in denen Ernaux und ihre Eltern sich befinden.

In der deutschsprachigen Literatur gibt es das in dem Maß nicht. Arbeiterklasse oder Unterschichten nimmt sie kaum in dem Blick, schon gar nicht mit dem Instrumentarium der Soziologie. Das Milieu der hiesigen Gegenwartsliteratur ist ein bevorzugt bildungsbürgerliches. Wenn Ernaux am Ende schreibt, dass sie ihr „Erbe ans Licht“ geholt habe, ein Erbe, „das ich an der Schwelle zur gebildeten, bürgerlichen Welt zurücklassen musste“, dann schwingt in so einem Satz ein Bewusstsein von ewiger Schuld mit.

Annie Ernaux: Der Platz. Aus dem Französischen von Sonja Finck. Bibliothek Suhrkamp. Berlin 2019. 94 Seiten, 18 €.

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