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Kultur - 19.03.2019

Das Chaos, das wir meinen

Kampf gegen Korruption, Festhalten an der Literatur: Rumänien ist das politisch unruhige Gastland der Leipziger Buchmesse. Impressionen aus der Hauptstadt Bukarest.

Gehen hier die Uhren anders? Rushhour auf der Piata Romana, einem Kreuzungspunkt mehrerer Bukarester Boulevards.

Ich heiße Rumänien, ruft das wundersame Land, das zwischen dem Karpatenbogen und der Pannonischen Tiefebene seine Glieder reckt. Aber das ist wahrscheinlich auch nur so eine Behauptung, die sich nicht erhärten lässt. Denn ob es um Landwirtschaft oder das Verlagswesen geht, um Gedenkpolitik oder Stadtplanung: Die einen sagen so, die anderen so. Auseinanderzuhalten, was bloße Irrtümer, was Lügen, was Deutungsabgründe und was tatsächlich Paralleluniversen sind, ist eine Wissenschaft für sich.

In seltener Einmütigkeit hört man allenfalls: Bukarest ist nicht Rumänien. Fahrt nach Iași, in die Königsstadt an der Grenze zu Moldawien, und ihr werdet den gelehrten Geist des 19. Jahrhunderts atmen! Fahrt ins Zentrum des Banat, nach Timișoara, und die zahnlückigen Reste Habsburgs werden euch anlächeln! Fahrt ins siebenbürgische Sibiu, und die adrette Altstadt wird euch blenden! Und bevor ihr ins pockennarbige Bukarest mit seinen postmodern umgebauten Ruinen zurückkehrt: Fahrt aufs Land und wälzt euch, während ein Pferdefuhrwerk vorüberklappert, im Originalschlamm des Mittelalters!

Bukarest mag für Rumänien ein ähnlicher Sonderfall sein wie Paris für Frankreich, doch was macht eigentlich Bukarest zu Bukarest? Mein ganzes Land, sagt Mircea Cărtărescu, Rumäniens bedeutendster lebender Schriftsteller, der mit seiner „Orbitor“-Trilogie die finsteren Ceaușescu-Jahre in einen psychedelischen Traum verwandelte, ist auf dem besten Weg, Venezuela zu werden. Die Verteilung des Wohlstands, klagt er in der Libraria Humanitas, der Buchhandlung seines gleichnamigen Verlags, in dem mit „Solenoid“ vor einem guten Jahr sein jüngster Mammutroman erschienen ist, entspricht mehr und mehr lateinamerikanischen Verhältnissen.

Franzosen oder Türken?

Auf der Calea Victoriei, einer Hauptarterie von Bukarest, gelangt man stadteinwärts zum Teatrul Odeon, einer Miniaturausgabe des Pariser Odeon. Da steht man plötzlich, wie an vielen anderen Orten auch, fast in Frankreich. Und wer hat auf dem Platz davor Aufstellung genommen? Mustafa Kemal Atatürk. Sein Denkmal erinnert seit 1998 an die Balkanentente zwischen den Weltkriegen, auch wenn von ihr nur die Freundschaft beider Länder geblieben ist. Anders als dem Osmanischen Reich, von dem sich die Rumänen 1881 mit König Karl I. endgültig gelöst hatten, fühlten sie sich dem Begründer der modernen türkischen Republik verbunden. Als die Nachricht von Atatürks Tod am 12. November 1938 Bukarest erreichte, schlossen sogar die Schulen.

Im New Europe College, einer 1994 nach dem Vorbild des Berliner Wissenschaftskollegs gegründeten Einrichtung, ergänzt Hausherr Andrei Pleșu das kulturelle Kunterbunt auf eigene Weise. Der Religionsphilosoph, der seine Professur nach der Revolution einmal gegen den Posten des Kultur- und einmal gegen den des Außenministers eintauschte, bis er der Politik überdrüssig wurde, liebt einen unter Kollegen ausgesponnen Witz.

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Erst sagte einer: Die Rumänen halten sich doch tatsächlich für Franzosen, aber sind sie in Wahrheit nicht nur Türken? Darauf ein zweiter: Die Griechen sind um keinen Deut besser. Die halten sich für Italiener, und was sind sie? Traurige Türken! Und schließlich ein Dritter: Wisst ihr nicht, dass das Schlimmste die Ungarn sind? Jedes Kind weiß, dass sie eigentlich Türken sind. Und wofür halten sie sich in ihrer unendlichen Verblendung? Für Ungarn.

So viel Chauvinismus, zumal aus dem Munde eines Istanbuler Historikers, Edhem Eldem, darf sein. Erst recht gegenüber Rumäniens benachbartem Erzrivalen, der das Szeklerland, wo eine starke ungarische Minderheit mit eigenem Dialekt ein archaisches Leben führt, immer wieder mit ganzen Busladungen staunender Magyaren heimsucht.

Fünf Kulturminister in zwei Jahren

Pleșus New Europe College versteht sich als Anlaufstelle für junge Wissenschaftler, die gerne wieder in ihrer Heimat leben und arbeiten würden, aber wie vier Millionen Landsleute aus allen sozialen Schichten – von insgesamt rund 19 Millionen Bürgern – ins Ausland abgewandert sind. Die Folgen für das Bildungs- und Gesundheitssystem sind einschneidend, die Schauergeschichten von verlassenen Kindern und Alten herzzerreißend. Das College sieht sich aber auch als intellektueller Fels in der Brandung eines politischen Chaos, das Rumänien in weitaus mehr kleptokratischer als nationalistischer Hinsicht bestimmt. Das Land hat in den letzten zwei Jahren fünf Kulturminister verschlissen – und im Lauf der vergangenen zwölf Monate drei Regierungen. Seit Ende Januar hat es mit der 54-jährigen Sozialdemokratin Viorica Dăncilă von der PSD erstmals eine Ministerpräsidentin, deren Partei mit den Nationalliberalen von ALDE koaliert. Dăncilă gilt als treue Gefolgsfrau des Parteivorsitzenden Liviu Dragnea, aber auch als außenpolitisches Sicherheitsrisiko: In einem Fernsehinterview vor ihrer Inthronisierung erklärte sie Iran und Pakistan zu EU-Mitgliedsstaaten.

Um keine Bosheit verlegen

Dragnea wäre selbst gerne Regierungschef, darf dieses Amt als vorbestrafter Wahlbetrüger aber nicht antreten. Obendrein wird gegen ihn derzeit wegen Unterschlagung von EU-Geldern in Höhe von rund 21 Millionen Euro ermittelt. Er gehört zu den maßgeblichen Anwälten eines Amnestie-Gesetzes für korrupte Politiker, das Zehntausende von Demonstranten im ganzen Land auf die Straße bringt. Staatspräsident Klaus Iohannis, ein Siebenbürger Sachse, hofft auf das Verfassungsgericht, um einer Unterzeichnung zu entgehen.

In Ermangelung besserer Geschäfte muss man wohl als Motto unterstellen: In jüngster Zeit hat der Rumäne eher in Politik gemacht. Aber halt! Genau das hat Ion Luca Caragiale, der Komödienkönig der Nation, ohne den Eugène Ionesco niemals sein absurdes Theater erfunden hätte, schon vor 120 Jahren geschrieben. Und zwar in seiner Geschichte über den „verdrehten Mensch Canuschke“, der es längst ins Sprichwörtliche geschafft hat: Sei kein Canuschke!

Auch sonst war „Onkel Janco“, der Abkömmling von Griechen mit albanischem Einschlag, um keine Bosheit verlegen. „Wo alle wichtigen Menschen Nichtsnutze sind, sind auch alle Nichtsnutze wichtige Menschen“, heißt es in „Humbug und Variationen“ (Guggolz Verlag), einer Auswahl aus seinem hoch komischen Prosawerk. Mit unvergleichlichem Sarkasmus schaute er seinem Volk, den „Humbürgern“, wie es in Eva Ruth Wemmes neuer Übersetzung heißt, aufs Maul und in die Seele – zuletzt aus Berlin, wo er acht Jahre lang, bis zu seinem Tod im Jahr 1912, mit seiner Familie lebte.

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