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Kultur - 22.03.2019

Bucht der Melancholiker

Verlorenes Paradies: In seinem Familienfilm „Das Haus am Meer“ entwirft Robert Guédiguians ein französisches Gesellschaftsporträt.

Menschliche Unordnung am Meer. Die Filmfamilie schaut in die Abendsonne.

Abendsonne. Terrasse. Meer. Frieden. Kammerspiel für eine alte Hand und den Balkontisch: So, wie die Finger plötzlich Halt an ihm suchen, unverkennbar letzten Halt, ist klar, dieser Abendfriede meint nicht den Mann, der aufs Meer schaut. Was für ein Protokoll eines Schlaganfalls! Und dann kommen die Kinder des alten Maurice in den kleinen Küstenort bei Marseille, Angèle, die erfolgreiche Theaterschauspielerin, die diesen Ort nie mehr wiedersehen wollte, und Joseph, der Gewerkschafter. Auch Joseph sieht nicht aus, als habe er das Glück erfunden. Dabei war die Parole „Größtmögliches Glück für alle!“ der Leitsatz seines Lebens. Jetzt ist seine junge Freundin das Einzige, was zukünftig wirkt an ihm.

Was wird aus Vater? Familientreffen aus unfreiwilligem Anlass sind immer wieder ein dankbares Sujet des Kinos. Wie beiläufig, gleichsam am Zufällig-Privaten, lassen sich ganze Gesellschaftsporträts entwerfen. Robert Guédiguian ist der Marseille-Filmer unter den französischen Regisseuren. „Marius und Jeanette – Eine Liebe in Marseille“ (1997) ist sein bekanntestes Werk, gefolgt von „Café Olympique – ein Geburtstag in Marseille“ (2014). Immer wieder das urbane Chaos, große menschliche Unordnung am Meer. Guédiguian (65) konnte schon seinem Jahrgang nach dem sozialen Engagement nicht ausweichen, darum kam er nie auf den Gedanken, der Urfehler könnte gewesen sein, dass das Leben das Wasser überhaupt verlassen hat.

„Das Haus am Meer“ spielt nicht in Marseille, sondern in einer kleinen Bucht nebenan. Darüber, was dieser kleine Fischerort war, sind sich die Geschwister einig: das Paradies. Darüber, was es heute ist, auch: ein verlorenes Paradies, die meisten Häuser stehen leer. Ihre besserverdienenden Besitzer kommen erst im Sommer wieder, der Ort stirbt so wie der alte Maurice. Das ist der Rahmen. Guédiguian füllt ihn mit Dialogen der Form: Wie ist so viel Ende möglich, wo einmal so viel Anfang war? Hätte das, was wir die gesellschaftliche Entwicklung nennen, diese Bucht nicht einfach übersehen können? Die vage Kleinsthoffnung dahinter: Liegt im Ende nicht manchmal ein neuer Anfang beschlossen?

Guédiguian hat wieder seine alte Filmfamilie engagiert, das ist konsequent, schließlich spielen sie hier auch eine Familie, und es ist durchaus schön, der behutsamen Wiederannäherung der Geschwister zuzusehen, leise Abstoßungen inklusive. Jean-Pierre Darroussin ist der derangierte Gewerkschafter, Gérard Meylan der älteste, immer dagebliebene Bruder, der das Restaurant des Vaters weiterführt: billig und trotzdem gut. Es ist eine Frage der Weltordnung. Die Geschwister finden zu so bemerkenswerten Einsichten in die zeitgenössische menschliche Verfasstheit wie: „Im Kopf rechts und im Herzen links“.

Guédiguians Frau Ariane Ascaride ist Angèle, die Theaterschauspielerin, legendär geworden im „Guten Menschen von Sezuan“, was die Weltkoordinaten eines örtlichen Fischerjungen revolutionierte: Fisch und Brecht’sches Theater, nein, Brecht’sches Theater und Fisch! Der junge Mann liebte die Veteranin der Bühne, schon bevor er sie sah, und jetzt noch viel mehr. Das klingt weltanschaulich und erotisch etwas gewaltsam, und genauso ist es anzusehen. Als die betagten Geschwister schließlich drei elternlose Flüchtlingskinder im Küstenwald finden und vor der Polizei verstecken, ist man ernstlich verstimmt. So sind sie nun mal, die Linken. Ruinieren leichtfertig noch die schönste, klügste Melancholie und den eigenen Film im Dienste der Menschlichkeit.

In zehn Berliner Kinos; OmU: Il Kino, Bundesplatz, Cinema Paris, fsk, Hackesche Höfe, Kulturbrauerei

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