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Kultur - 10.12.2018

Blick in die Röhre

Der Besucher als Zootier: Im Hamburger Bahnhof sucht Sam Pulitzer den Dialog mit Werken aus der Nationalgalerie.

Nachbarn. Die Installation „Ventilatoren“ von Roman Signer (1998).

Sam Pulitzer ist ganz Kind seiner Zeit: Dem großen, repräsentativen Bildformat misstraut der 1984 geborene Künstler ebenso wie tiefernsten Aussagen. Pulitzer bevorzugt die kleine Zeichnung, grundiert wird sein Werk von ironischer Vieldeutigkeit. Die Motive entstammen dem digitalen Archiv des Internets, darunter Märchen- oder Comicfiguren.

Meist sind es Wesen ohne Tiefenschärfe, flach wie Schablonen – und deshalb perfekte Platzhalter für kluge Gedanken, die sich auf solche Vorlagen projizieren lassen. Denn Pulitzer, dessen Arbeiten aktuell im Hamburger Bahnhof zu sehen sind, kratzt trotz aller scheinbaren Unverbindlichkeit nicht bloß an der Oberfläche. Die Ausstellung „Whim or Sentiment or Chance“ übt hintersinnig Kritik am kulturellen Betrieb, von dem auch Pulitzer abhängt, indem sie Fragen aufwirft: Wer hat Erfolg am Kunstmarkt, wer punktet bei Kuratoren und weshalb erregt ein Werk vielleicht erst Jahrzehnte nach dem Tod eines Künstlers Aufmerksamkeit?

Mit absoluter Gewissheit kann der US-Amerikaner darauf auch nicht antworten. Doch er gruppiert seine Arbeiten um diese Themen und überträgt eine Theorie des Ökonomen John Maynard Keynes auf die Kunst. Ertüftelt hatte sie der Brite, um den Weg des Geldes und der Zinsen in den 1930er-Jahren nachzuzeichnen. Nicht rationales Kalkül, sondern Laune (Whim), Gefühl (Sentiment) und Zufall (Chance) prägen weitreichende Entscheidungen. Ein beunruhigender Gedanke, aber auch nicht ohne Brisanz, wenn man Museen an denselben Kriterien misst: Schließlich behaupten sie kanonisches Sammeln – und dass sich in der jeweiligen Sammlung das Beste einer Generation wiederfindet.

Eulen gehen zur Nachtschicht

Pulitzers Arbeit ist ein Geschenk, seine Präsenz im Hamburger Bahnhof verdankt sich ebenso der Qualität des Künstlers wie auch dem Zufall. „Acrylic Display Corridor, Animal Spirits“, ein Korridor aus transparentem Acrylglas mit sieben Zeichnungen an den Innenwänden, wurde vom Schweizer Versicherungskonzern Baloise 2017 während der Kunstmesse Art Basel im Sektor „Statement“ gekauft, in dem Galeristen ihre aufstrebenden Künstler präsentieren. Zwei von ihnen werden jährlich mit je 30 000 Schweizer Franken ausgezeichnet. Zusätzlich erwirbt das Unternehmen seit nun zwei Jahrzehnten ein Werk von jedem Preisträger und übergibt es an wichtige europäische Museen.

Das sind eine Menge Variablen, zusammen haben sie „Acrylic Display Corridor, Animal Spirits“ in die Sammlung der Nationalgalerie gebracht. Pulitzer konnte es nicht wissen, aber sein Werk konzentriert sich genau auf jenen schmalen Grat, an dem sich die Zukunft eines kreativen Produkts entscheidet. Wenn er Vorlagen aus dem Internet nimmt und den digitalen Ausdruck immer weiter überarbeitet, stellt der Künstler die Frage nach der Urheberschaft seiner Arbeit. Wenn er sich fremder Logos oder (Tier-)Figuren bedient, eignet er sich Kreationen anderer an. Zugleich entsteht Neues, das der Künstler mit seinem Wissen über Literatur und Pop verschlüsselt – bis die Botschaft am Ende nur denen zugänglich ist, die diese Codes verstehen. Pulitzer rückt diese Art der Abgrenzung auch spielerisch in den Fokus seiner Kritik.

Auf seinen kleinformatigen Bildern gehen Eulen zur Nachtschicht, ein weiteres zeigt einen Frosch vor einem stilisierten Schlund: Verweis auf die Redewendung „Frosch im Hals“ wie auf Emily Dickinsons Gedicht „A livelong June“, das der Zeichnung ihren Namen gibt. Wer die Blätter anschauen will, der muss den schmalen Acrylkorridor betreten, es macht ihn zum Teil eines Experiments: Plötzlich steht man in einer Röhre, herausgehoben und zugleich isoliert von den übrigen Besuchern. Wie ein Zootier – oder wie in einer frühen Arbeit von Bruce Nauman, die stets um die Frage kreisen, welche Empfindungen Kunst auslösen und wie man sie manipulieren kann.

Perfekte Nachbarn für Pulitzers Arbeit

Vielleicht war es jene Übereinstimmung, die Kuratorin Ina Dinter auf die Spur jener Künstler brachte, deren Arbeiten den Neuankömmling dialogisch begleiten. Dinter hat sich in der Sammlung der Nationalgalerie umgesehen, hat nach Verwandtschaften gesucht und stellt nun Beiträge von Nauman, Daniel Buren, Mona Hatoum, Jenny Holzer oder Gregor Schneider dem transparenten Tunnel gegenüber. An Buren reizte sie die formale Nähe der verwendeten Materialien. Darüber hinaus fragt der französische Konzeptkünstler immer schon danach, wann Interventionen im öffentlichen Raum als Kunst wahrgenommen werden – und er scheute sich nicht, selbst Rolltreppen mit seinem charakteristischen Streifenmuster zu bemalen.

Im hinteren Teil der Ausstellung wird Gregor Schneiders Schlafzimmer aus dem düsteren „Haus ur“ einer Wandarbeit von Pulitzer gegenüber gestellt. Fotos, Zeichnungen und Text verbinden sich zu einem Puzzle über die Trostlosigkeit amerikanischer Vorstädte. Unheimlich ist beides: Schneiders Innenleben eines Reihenhauses vom Niederrhein ebenso wie die menschenleeren Straßen von auf reinem Pragmatismus basierenden Quartieren. Und man merkt nicht erst hier: Sam Pulitzers Arbeit hat im Hamburger Bahnhof seine perfekten Nachbarn gefunden.

Hamburger Bahnhof, Invalidenstr. 50-51, bis 14. April, Di, Mi, Fr 10–18 Uhr, Do 10–20 Uhr, Sa & So 11–18 Uhr

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