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Kultur - 06.07.2019

Auf halbem Weg

Die Bildhauerin Burçak Bingöl fügt in der Galerie Zilberman Fundstücke aus ihrer Istanbuler Heimat zu rätselhaften Skulpturen zusammen.

Burçak Bingöls Objekt „Timescape-Handle“ stammt aus diesem Jahr.

Ein aufrechtes Oval: Rosafarbene Teigpartien wechseln sich mit ockerfarbenen Tonscheiben ab, aus der oberen Schicht quillt ein gelblich-graues Rinnsal aus erstarrtem Schleim. Das Objekt scheint eine Kreuzung aus Buttercremetorte, Bodenprobe und bizarrem Kleinod zu sein. Auf den ersten Blick erinnern die seltsamen Exponate in einem offenen Holzgerüst in der Charlottenburger Zilberman Galerie (Goethestr. 82, bis 27.7.; Di bis Fr 10–19.30 Uhr, Sa 12–19 Uhr) an Kunsthandwerk oder kostbares L’art pour l’art. Doch die glänzenden Oberflächen und die Anmutung wertvollen Gebrauchsguts täuschen. In den jüngsten Arbeiten der türkischen Künstlerin Burçak Bingöl geht es um gehaltvolle Themen.

Seit ihrem Studium an der Hacettepe Universität in Ankara stehen Keramik und Ornament im Zentrum der 1976 in der Schwarzmeerstadt Görele geborenen Künstlerin. Burçak Bingöl bezieht sich auf die ottomanische Kultur, in der diese Materialien und Motive eine zentrale Rolle spielten. Dabei geht es ihr freilich nicht um die ehrfürchtige Pflege des kulturellen Erbes. Für ihre Serie „Broken“ zertrümmerte sie Haushaltsgegenstände aus Keramik, ordnete die Bruchstücke auf einem quadratischen Holzrahmen zu einer dreidimensionalen Collage und überzog sie mit einem jahrhundertealten islamischen Blumenmuster.

Bingöls formvollendete Art, eine traditionelle türkische Kunstform zu dekonstruieren und sie in ein zeitgenössisches Objekt zu verwandeln, bescherte der Serie vor ein paar Jahren den Einzug in das New Yorker Metropolitan Museum of Art. Auf der 15. Istanbul-Biennale vor zwei Jahren zeigte sie, wie sie eine alte Technik zu revitalisieren versteht. Ähnlich wie Ai Weiwei 2015 Überwachungskameras aus Marmor gefertigt hatte, hängte die Künstlerin neben zahlreiche solcher Geräte im öffentlichen Raum Nachbildungen aus Keramik, bemalt mit Blumenmustern. Drei Jahre zuvor hatte sie für ihre Arbeit „Ceyhir“ die Frontseite eines Istanbuler Zementlasters in Keramik nachgebildet.

Sie verarbeitet Pflastersteine, Stuck, Scherben und Pflanzen

Mit derlei Objekten schließt Bingöl nicht nur Geschichte und Gegenwart kurz. Sie wertet auch das Inventar der Alltagskultur auf, macht es neu sichtbar. So überschreitet sie bewusst die Grenze zur Pop-Art. In ihren jüngsten Arbeiten setzt Bingöl Keramik auf eine eher gewöhnungsbedürftige Art ein. Denn hier dient das Formmaterial als Kitt für urbane Fragmente. Gesammelt hat sie diese Bruchstücke in Istanbul: Pflastersteine, Stuck, Scherben, Pflanzen.

Während ihres Berlin-Aufenthalts im Rahmen des Artists-in-Residence-Programms der Galerie von Moiz Zilberman hat sie die Funde zu den undefinierbaren, seltsam kostbar anmutenden Formen „verbacken“. Zilberman will Prozesse anstoßen und neue, kontextbezogene Werke ermöglichen, statt sich im Œuvre seiner Künstler zu bedienen, als wär es ein Supermarkt. Jede Schau begleitet ein vorzüglicher Katalog.

Stillgelegte Zeit. Die fragilen Objekte lagern auf einem groben Holzregal.

Zwischen die Fragmente gibt Bingöl ungebrannte Tonmasse, schichtet sie aufeinander und lässt schließlich Glasur darüberlaufen. Womit der Zufall ins Spiel kommt. Die Skulpturen werden zu Sinnbildern der unvollendeten Form wie der geschichteten Zeit.

In dem ganzen Unternehmen steckt zugleich ein Ost-West-Kulturtransfer zwischen Istanbul und Berlin. Bingöl thematisiert ihn auch durch die rohen Pflastersteine, die sie aus dem Istanbuler Viertel, in dem ihr Atelier beheimatet ist, in einem Raum der Galerie ausgelegt hat. Als Pendant bespielt sie die Wände im Istanbuler Stammhaus der Galerie mit Bildern des bourgeoisen Charlottenburger Interieurs der Berliner Dependance.

Bingöls stellt in ihrer Berliner Präsentation die Relikte ihrer sich rasant verändernden Heimatstadt Istanbul gleichsam still. „Interrupted Half Way Through“ als Titel lässt sich auch als ein auf halbem Wege untergegangenes Schiffswrack deuten. Den Satz entnahm Bingöl dem 1946 erschienenen Essayband „Fünf Städte“ des türkischen Schriftstellers Ahmet Hamed Tanpinar. Vor diesem Hintergrund sind ihre Arbeiten als Sinnbild einer geretteten Vergangenheit zu verstehen. Zugleich stellt ihre fragile Fusion von Zeit und Raum die Frage nach deren Zukunft.

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