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Kultur - 07.07.2019

Als die Prosa politisch wird

Die Wirtschaft geht den Bach runter, der Roman erlebt von 1918 bis 1933 eine Blüte. Eine neue Sozialgeschichte der deutschen Literatur beleuchtet diese fruchtbare vor der furchtbaren Zeit.

Literarische Gemischtwaren zu Zeiten der Weimarer Republik. Die Buchabteilung des KaDeWE am Berliner Wittenbergplatz im Jahr 1932.

Wenn es darum geht, der heutigen Demokratie bei jeder Verkühlung oder Erhitzung die bange Frage zu stellen, ob es mit ihr zu Ende gehe, ist die Zeit zwischen 1918 und 1933 stets präsent. Zwar hört heute kaum einer mehr auf Schriftsteller, aber nach wie vor werden die Dichter und Intellektuellen von damals beschworen – als besorgte Mahner oder radikale Zerstörer, hartnäckige Nationalisten, frohgemute Europäer oder gar Kosmopoliten. Nicht zufällig machte gerne die vom Kunsthistoriker Wilhelm Pinder stammende, aber von Ernst Bloch popularisierte Formulierung der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen die Runde. Die Politisierung der Literatur stammt aus jener Zeit selbst, die demonstrative Abkehr davon eingeschlossen.

Mehr noch ist es eine kulturelle Aktualität, die es der Literatur jener Zeit abzugewinnen gilt, eine Bewährung in der medialen Konkurrenz trotz der versuchten Allianzen, ein Standhalten im schnellen Wechsel der Moden bei Themen und Formen, ein Kursbewusstsein im Schlingern zwischen Betriebskrisen und Bestsellerphänomenen, vor allem aber ein Sinn für die schwindenden Grenzen zwischen U und E. Dabei geht es auch um den Rollentausch zwischen Schriftstellern und Journalisten, den Siegfried Kracauer zur Zeit der Weltwirtschaftskrise diagnostizierte: Erstere äußerten sich tagesaktuell und programmatisch, Letztere vermochten ihre Ansichten nurmehr in Romanen unter das Publikum zu bringen.

Die Themen sind Krieg, Inflation, Revolution

Als 1996 in Hansers Sozialgeschichte der Literatur der Band zur Weimarer Republik als Nachzügler erschien, gab es vielfältige Kritik. Für die einen war es zu viel, für die anderen zu wenig Sozialgeschichte. Autoren wurden vermisst, darunter Robert Walser, auch ein objektiverer Blick auf alles nicht Linke. Im Tagesspiegel hat damals der Germanist Horst Denkler sehr abgewogen geurteilt und dazu ermuntert, nun möge statt der divergierenden Beiträger doch einer es wagen, die Literaturgeschichte dieser Zeit aus einem Guss zu schreiben.

Über zwei Jahrzehnte später hat Helmuth Kiesel dieses Unternehmen verwirklicht, mit 1300 Seiten etwa doppelt so umfangreich wie damals. Zwar wird auch jetzt Robert Walser nur erwähnt, aber der Blick auf das literarische Spektrum ist um Österreich und die Schweiz erweitert, das politische deutlich aufgefächert. Es ist eben auch keine Literaturgeschichte der Weimarer Republik, sondern der deutschsprachigen Literatur zwischen 1918 und 1933.

Dabei enthält das monumentale Werk wesentlich mehr an Politik-, Wirtschafts- und Sozialgeschichte als der Vorgänger. Kiesel trägt nicht nur der Tatsache Rechnung, dass mit den Jahresdaten 1918 und 1933 ein politischer Rahmen gesetzt ist, sondern dass die Zeitgenossen die Literatur nahezu durchweg in der politischen Verantwortung sahen. So exemplarisch 1929 der Schriftsteller Hermann Kesser: „Der Stoff ist klar. Krieg, Revolution, Inflation, Kapitalismus, Sozialismus und Kommunismus“.

Die militärischen Katastrophen sind omnipräsent

Kiesel schreibt seine Darstellung wesentlich entlang der politischen Ereignisse. Das hat auch einen Grund im literarischen Feld selbst: Im Zehnjahresabstand hatten jeweils die jüngsten Ereignisse Konjunktur, im Drama, mehr noch in der Prosa. So liefert er weitgehend eine Literaturgeschichte der Prosa. Die dominierte auch zahlenmäßig. Bis 1932 kamen auf gut 800 Dramen nicht weniger als 5000 Romane und Erzählungen! „Die Zeit, ihr Tempo, ihre Hochflut von Fragestellungen, ihre Problematik, brauchen eine labile Kunstform“, schrieb damals Otto Flake. „Diese labile Kunstform ist der Roman.“

Auch die sozialen und medialen Veränderungen schlagen sich in Prosa nieder. Bertolt Brechts „episches“ Theater trägt dem ebenso Rechnung wie die Vielzahl der Fotobücher von Heinrich Hauser, Kurt Tucholsky und anderen. Hotel-, Kino-, Auto-, Flug-, Angestellten-, Bauern-, Journalisten-, Arbeitslosenromane – eine außerordentliche Spektralisierung, wird unter dem Rubrum „Zeitroman“ verklammert. Über und in allem Tagebücher, Autobiografien und Romane zum Krieg. Ernst Jünger, Ludwig Renn, Erich Maria Remarque, Werner Beumelburg, Franz Schauwecker und so weiter.

Ob Johannes R. Bechers hysterische Gaskriegs-Vision oder die Arbeitslosenromane, die militärischen Katastrophen sind omnipräsent. Die Gegenwart selbst erscheint als Fortsetzung des Kriegs mit anderen Mitteln. Nicht nur in der Agitationsliteratur von links und rechts. So zitiert Kiesel zum Schluss Rudolf Brunngrabers Diagnose im Roman „Karl oder das 20. Jahrhundert“, wonach Rationalisierung, Absatzkrise, Kreditpolitik den Krieg „mit anderen Mitteln“ fortführen.

Kiesel widmet sich auch abgetretenen Regionen wie dem Elsass

Einen weithin in Vergessenheit geratenen Aspekt der damaligen Literatur würdigt Kiesel ausführlich: den der Irredenta. Er widmet seine Aufmerksamkeit nicht nur der österreichischen und schweizerdeutschen Literatur, sondern auch den Autoren und ihren Themen aus den abgetretenen oder umkämpften Regionen: Elsass, Westpreußen, Posen, Oberschlesien, Böhmen und Mähren, Südtirol oder, besonders virulent, dem deutschen Baltikum.

Damit korrespondiert untergründig sein differenzierender Blick auf das rechte Spektrum zwischen Völkischen, alten und neuen Nationalisten, Faschisten, Nationalrevolutionären und Nazis. Selbst Joseph Goebbels’ Roman „Michael“ und Hitlers „Mein Kampf“ werden so nüchtern charakterisiert wie Arnolt Bronnen, Frank Thieß oder Ernst von Salomon. Ernst Jünger, als dessen kritischer Editor sich Kiesel seit geraumer Zeit betätigt, kommt ohnehin vor. Er ist eine Art Leitfossil, wie übrigens auch Erik Reger, der nachmalige Mitbegründer des Tagesspiegel, dessen nüchterne Zeitdiagnostik im Roman „Union der festen Hand“ ausführlich gewürdigt wird. Ganz erstaunlich, wie Kiesel die einzelnen Autoren und Werke zu charakterisieren versteht und weithin ohne schieres, in dieser Würdigung nicht ganz vermeidbares Namedropping auskommt.

Eine plausible Ordnung und lebendige Vielfalt

Naturgemäß kommen alle die uns bis heute liebgewordenen und geläufigen Autoren und Autorinnen in gebührendem Umfang vor – von Irmgard Keun bis Erich Kästner, von Gabriele Tergit bis Joseph Roth, Marieluise Fleißer bis Kurt Tucholsky, Vicki Baum bis Hermann Hesse, aber Kiesel setzt den urbanen Geistern auch die gegenüber, die erfolgreich etwa übers Ländliche oder Mutterschaft schrieben: Paula Grogger, Elisabeth Langgässer oder Ina Seidel, wie beim historischen Roman eben nicht nur Emil Ludwig und Lion Feuchtwanger, sondern auch Erwin Guido Kolbenheyer. Kiesel ist bemüht, jenseits kommoder Vorurteile zu urteilen. Nicht allen wird es schmecken, wenn er dabei den kommunistischen Johannes R. Becher mit dem völkischen Hans Grimm parallelisiert, aber seine Argumente sind plausibel.

Besonders hervorzuheben aber bleibt, dass er nicht nur in all die Unübersichtlichkeiten, Verwicklungen, Frontstellungen im Politischen wie Literarischen eine plausible Ordnung gebracht und darin doch die lebendige Vielfalt erfahrbar gemacht hat, sondern dass in alledem Drama und Lyrik sowie die überragenden, exzeptionellen Namen zur ihnen gebührenden Aufmerksamkeit kommen – Alfred Döblin, Franz Kafka, Thomas Mann, Robert Musil, Hermann Broch, Hans Henny Jahnn, Bertolt Brecht, Gottfried Benn, Stefan George, Georg Kaiser, Klabund und und und …

Welch fruchtbare vor der furchtbaren Zeit! Diese, ihre Literaturgeschichte wird vorhalten, mindestens so lange wie uns die Entwicklungen zwischen 1918 und 1933 noch als Spiegel dienen werden.

Helmuth Kiesel: Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1918 – 1933. Verlag C. H. Beck, München 2017. 1304 Seiten, 58 €.

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