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Kultur - 07.07.2019

Als Berlin noch seine Zukunft suchte

Neu aufgelegt: Gabriele Tergits epochaler Roman „Effingers“ erzählt die Geschichte des jüdischen Bürgertums von der Gründerzeit bis zum Holocaust.

Per Anagramm zum Nom de plume. Elise Hirschmann verwandelte ihren Kinderspitznamen Gitter zu Gabriele Tergit.

Neben Vicki Baum war sie eine der bekanntesten Schriftstellerinnen der Weimarer Republik. Doch Gabriele Tergit hat es nie so richtig in den Kanon moderner Klassiker geschafft. Bis jetzt. Schon die Neuauflage ihres Erfolgsromans „Käsebier erobert den Kurfürstendamm“ führte 2016 dazu, dass ihr Name wieder in aller Munde war. Es folgten die Erinnerungen „Etwas Seltenes überhaupt“ (2018) – beim Titel handelt es sich um eine Charakterisierung Tergits aus dem Munde des Journalisten Rudolf Olden. Jetzt liegt auch ihr Opus Magnum wieder vor, der erstmals 1951 erschienene Familien- und Epochenroman „Effingers“. Nicht nur aus der Ferne erinnert er unverkennbar an Thomas Manns „Buddenbrooks“.

An Ehrgeiz mangelte es Gabriele Tergit, die auch als Journalistin tätig war und als Gerichtsreporterin lange für das „Berliner Tageblatt“ arbeitete, keineswegs. Sie wollte in ihrem zweiten Roman nicht nur ein ganzes Zeitalter besichtigen, um es mit Thomas Manns Bruder Heinrich auszudrücken, sondern dieses auch auf epochale Weise. Dafür sprechen nicht nur die formalen und thematischen Ähnlichkeiten, sondern auch der monumentale Umfang des Romans von nunmehr knapp 900 Seiten. Und die lesen sich … Ja, wie lesen die sich? Vielleicht ist es das größte Kompliment, zu sagen, dass sich die „Effingers“ tatsächlich ein wenig wie die „Buddenbrooks“ lesen, also als eine Mischung aus Pageturner und höchstem literarischen Anspruch.

Tergits Stil mag weniger geschliffen und elegant sein als der Thomas Manns. Dennoch bleibt das Lektüreerlebnis in mehrfacher Hinsicht vergleichbar: „Effingers“ ist ein mitreißendes, erhellendes und aufgrund der Niedergangsthematik auch bedrückendes Buch. Es lebt durch seine scharf konturierten, plastischen Figuren, durch einen meisterhaft durchgehaltenen Spannungsbogen und nicht zuletzt durch eine minutiöse Zeichnung eines bürgerlichen Milieus, das es so nicht mehr gibt, hier aber wieder zum Leben erweckt wird – mitsamt der zeitgenössischen Moden, der Möbel und Wohnungen und Places to be, des Essens und Trinkens und auch der politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Ansichten.

Im Dialog mit den „Buddenbrooks“

Tergit befindet sich mit den „Buddenbrooks“ im Dialog. Paul Effinger etwa, eine Art Protagonist, erinnert an den gewissenhaften Thomas Buddenbrook, seine Schwägerin Annette in mancher Hinsicht an die prätentiöse Tony (wenn sie auch nicht so kopflos ist), und der dubiose „Leutnant der Reserve“, Udo Gerstmann, ist so etwas wie die Reinkarnation des unappetitlichen Mitgifterschleichers Bendix Grünlich.

Die Handlung erstreckt sich über vier Generationen und liefert gleichsam eine Chronik der politischen und kulturgeschichtlichen Ereignisse. Allerdings setzt Tergit mit ihrem „Verfall einer Familie“ – so der Untertitel der „Buddenbrooks“ – genau da an, wo Mann endet, in der Gründerzeit nämlich. Und: Ihre Familie ist eine jüdische – genauer gesagt sind es zwei Familien. Zu den Effingers gesellen sich die Goldschmidts, beide werden durch verschiedene Heiraten dann aber doch wieder eine. Wie im „Käsebier“ hat man es auch in den „Effingers“ mit Figuren nach realen Vorbildern zu tun – eine weitere Parallele zu Thomas Mann. Die Handwerkerfamilie des Uhrmachers Mathias Effinger, Jahrgang 1830 (die Stammbäume sind im Vorsatz des Buches abgebildet), lebt in einer fiktiven fränkischen Stadt. Die Bankiers Oppner und Goldtschmidt verkörpern dagegen den mondänen Reichtum und auch die Weltläufigkeit der Metropole Berlin, wo die Handlung überwiegend angesiedelt ist und Paul Effinger, der die Oppner-Tochter Klärchen heiratet, Karriere macht.

Paul ist wie besessen von der Idee der Massenproduktion, die von allen Seiten belächelt wird, er produziert zunächst Schrauben und wird schließlich Kopf einer führenden Firma in der Automobilindustrie. Der Weg vom Handwerksbetrieb in die Massenproduktion ist nur ein Beispiel der „Verwandlung der Welt“ (Jürgen Osterhammel), die Tergit so anschaulich beschreibt. Weitere Beispiele dieser Zeitenwende sind der zunehmende Antisemitismus und Nationalismus, der Militarismus Wilhelm II., der Sozialismus, der Modernismus in Kunst, Literatur und Theater, der hier nicht zu kurz kommt, und nicht zuletzt die in Erscheinung tretende Frauenbewegung, der Tergit – in Form gleich mehrerer Figuren – ihre Aufmerksamkeit widmet. Paul zieht überdies mit seiner Familie in einen Neubau an den Kurfürstendamm, aus dem Bismarck damals ein Pendant der Champs-Élysées machen wollte.

Aufstieg, Niedergang – und Holocaust

In Tergits Roman ist das Berlin, wie wir es heute kennen, erst im Entstehen begriffen. Dem fantastischen Aufstieg folgt der unaufhaltsame Niedergang der Dynastie, der schließlich im Holocaust gipfelt. Einer der Gründe, der vielleicht offensichtlichste, aus dem Tergit überhaupt in Vergessenheit geraten konnte, besteht darin, dass sie als Jüdin vor den Nazis fliehen musste, zunächst nach Palästina, dann nach London, wo sie 1982 auch starb.

Dass ihr bereits 1933 begonnener Roman auch nach dem Erscheinen im Nachkriegsdeutschland keine Wellen schlug, liegt auch daran, dass es darin um jüdische Schicksale geht und die Deutschen an ihre Morde nicht erinnert werden wollten. So sah es jedenfalls Tergits Schwager Adolf Reichenberg, der in Jerusalem an der Universität lehrte. Schon die Verlagssuche hatte sich entsprechend schwierig gestaltet.

Was Letzteres anbetrifft, ist die Situation heute glücklicherweise eine andere. Im Herbst 2020 plant der Schöffling Verlag, so hört man, im Rahmen der von Nicole Henneberg herausgegebenen Gesamtausgabe Tergits Gerichtsreportagen neu herauszubringen. Im Jahr darauf soll dann „So war’s eben“ folgen, ein Roman aus dem Nachlass, der derzeit gesichtet wird. Wer Gabriele Tergit noch nicht gelesen hat, sollte das jetzt schleunigst nachholen.

Gabriele Tergit: Effingers. Roman. Mit einem Nachwort von Nicole Henneberg. Schöffling & Co, Frankfurt a. M. 2019. 900 Seiten, 28 €.

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